Rot und Schwarz
Miene war unbezahlbar.
Obwohl ihm seine Freunde, die Dandys, davon abredeten, bestand Julian darauf, den berühmten Philipp Vane zu sehen, den einzigen Philosophen, den England seit Locke gehabt hat. Julian besuchte ihn, als gerade das siebente Jahr seiner Gefangenschaft zu Ende war. »Die Aristokratie läßt in England nicht mit sich spaßen!« dachte er bei sich. »Mehr noch! Vane ist entehrt, verächtlich gemacht...«
Er fand Vane gesund und munter. Die Wut der Aristokraten hatte ihm den Humor erhalten. Als Julian das Gefängnis wieder verließ, meinte er: »Das ist der einzige fröhliche Mensch, den ich in England gesehen habe!«
Vane hatte unter anderem zu ihm gesagt: »Das Despotentum hat keine besseren Helfershelfer als den Gottesbegriff...«
Genug! Er war Zyniker.
Bei seiner Rückkehr fragte ihn Herr von La Mole: »Welche ergötzliche Charakteristik bringen Sie mir aus England mit?«
Julian schwieg.
»Welche Charakteristik bringen Sie mit, gleichviel ob ergötzlich oder nicht?« wiederholte der Marquis lebhaft.
»Erstens«, begann Julian, »der vernünftigste Engländer ist eine Stunde am Tage verrückt. Er wird vom Dämon des Selbstmordes geplagt, dem eigentlichen Gotte des Landes. Zweitens: Geist und Genie verlieren fünfundzwanzig Prozent ihres Wertes, wenn man sie nach England exportiert. Und drittens: nichts auf der Welt ist so schön, wunderbar und rührend wie die englische Landschaft.«
»Nun will ich Ihnen einmal was sagen«, erwiderte der Marquis. »Erstens, warum haben Sie auf dem Ball beim russischen Botschafter gesagt, daß es in Frankreich dreimalhunderttausend junge Leute von fünfundzwanzig Jahren gäbe, die leidenschaftlich den Krieg herbeiwünschten? Glauben Sie, daß Monarchen derlei gerne hören?«
»Man weiß nicht, was man mit unsern großen Diplomaten reden soll«, antwortete Julian. »Sie haben die Manie, ernsthafte Diskussionen zu führen. Wenn man sich nun an die Gemeinplätze der Zeitungen hält, so gilt man für geistlos. Erlaubt man sich aber etwas Wahres und Neues, dann sind sie erstaunt, und am andern Morgen um sieben Uhr lassen sie einem durch den ersten Botschaftssekretär sagen, daß man sich unpassend benommen habe.«
»Nicht übel!« lachte der Marquis. »Übrigens wette ich, Herr Psycholog, daß Sie nicht erraten haben, weswegen Sie eigentlich in England gewesen sind.«
»Verzeihen Euer Exzellenz«, erwiderte Julian, »ich bin dort gewesen, um einmal wöchentlich bei Seiner Majestät Botschafter zu dinieren, dem höflichsten Menschen auf Gottes Erdboden...«
»Sie sind dort gewesen, um sich diesen Orden zu holen«, sagte der Marquis. »Ich will nicht, daß Sie Ihren schwarzen Rock an den Nagel hängen, und bin doch an den amüsanten Ton gewöhnt, auf den ich mit Ihnen im blauen Rocke gekommen bin. Bis auf weiteres merken Sie sich dies: Wenn ich das rote Bändchen sehe, sind Sie der jüngste Sohn meines Freundes, des Herzogs von Chaulnes, der, ohne es zu ahnen, seit einem halben Jahre angehender Diplomat ist... Verstehen Sie mich wohl«, setzte der Marquis sehr ernst hinzu, indem er Julians Dankesbezeigungen unterbrach. »Ich will Sie durchaus nicht aus Ihrer Laufbahn herausreißen. Es ist das immer ein Fehler und Nachteil, sowohl für den Beschützer wie für den Schützling. Wenn Sie meiner Geschäftsangelegenheiten überdrüssig sind oder wenn Sie mir nicht mehr behagen, werde ich Ihnen eine gute Pfarre verschaffen wie unserm Freunde, dem Abbé Pirard, und die Sache ist erledigt.«
Des Marquis letzte Worte klangen überaus trocken. Der Orden kam Julians Stolz zugute. Fortan redete er viel mehr; er fühlte sich weniger oft verletzt und wähnte seltener, die Zielscheibe gewisser Bemerkungen zu sein, die nicht gerade schmeichelhaft sind und bei lebhafter Unterhaltung doch dem und jenem entschlüpfen.
Dem Orden verdankte er auch einen sonderbaren Besuch: den des Barons von Valenod, der nach Paris kam, um dem Minister für seine Erhebung in den Adelsstand zu danken und sich mit ihm zu verständigen. Er sollte an Herrn von Rênals Stelle Bürgermeister von Verrières werden.
Julian hätte laut auflachen mögen, als Valenod ihm erzählte, Herr von Rênal habe sich als Jakobiner entpuppt. Tatsächlich war der neubackene Baron bei den bevorstehenden Neuwahlen der Kandidat der Regierung, während bei der großen Wahlversammlung des eigentlich stark legitimistischen Kreises Herr von Rênal von den Liberalen aufgestellt war.
Vergeblich versuchte Julian, etwas über
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