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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Schwarz.
    Nach der Tafel verspürte er nichts mehr von der Begeisterung, die ihn den Tag über erfüllt hatte. Zum Glück war der lateinkundige Akademiker Tischgast. »Dieser Mann wird sich am wenigsten über mich aufhalten«, dachte Julian, »wenn meine Frage über Fräulein von La Moles Trauer, wie ich vermute, eine Ungeschicklichkeit wäre.«
    Mathilde sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Das ist wohl pariserische Koketterie, wie Frau von Rênal sie mir geschildert hat?« sagte er sich. »Ich war heute morgen nicht liebenswürdig gegen Mathilde. Ich bin auf ihre Laune, mit mir plaudern zu wollen, nicht eingegangen. Dadurch bin ich in ihrer Achtung gestiegen. Der Teufel kommt ja stets auf seine Rechnung. Gelegentlich wird sie sich durch hochmütige Geringschätzung schon zu rächen wissen. Ich traue ihr alles zu. Was für ein Unterschied gegen das, was ich verloren habe! Wie reizend natürlich war Luise! Wie harmlos! Ich kannte ihre Gedanken immer früher als sie selbst. Ich sah sie entstehen. Es war keine Gegenströmung in ihr, außer der Furcht, ihre Sünde könne sich an ihren Kindern rächen. Das war eine vernünftige, natürliche Zuneigung, eine Wonne selbst für mich, wiewohl ich darunter litt. Ich war ein rechter Tor! Die falsche Vorstellung, die ich mir damals von Paris machte, war schuld daran, daß ich dieses herrliche Weib nicht voll gewürdigt habe. Großer Gott, welch ein Unterschied! Was finde ich hier? Nichts als eisige, hochmütige Eitelkeit, alle Spielarten der Eigenliebe – und weiter nichts!«
    Man stand vom Tisch auf.
    »Daß mir nur mein Akademiker nicht weggeschnappt wird!« sagte sich Julian. Als man in den Garten ging, näherte er sich ihm, machte ein sanftmütiges und unterwürfiges Gesicht und teilte in dem sich entspinnenden Gespräche seine Wut ob des Erfolges von Viktor Hugos Hernani , der eben, im Februar des Jahres 1830, seine Uraufführung erlebt hatte.
    »Lebten wir doch noch in der Zeit der
Lettres de cachet
!« heuchelte Julian.
    »Dann hätte er sich nicht erfrecht!« rief der Akademiker mit einer Handbewegung frei nach Talma.
    Als die Rede auf irgendeine Blume kam, zitierte Julian etliche Stellen aus Virgils
Georgica.
Des weiteren bemerkte er, nichts ließe sich mit den Versen des Abbé Delille vergleichen. Mit einem Worte, er schmeichelte dem Akademiker auf jede Weise. Schließlich sagte er im gleichgültigsten Tone: »Ich vermute, Fräulein von La Mole hat einen Onkel beerbt. Sie trägt Trauer.«
    »Was!« sagte der Akademiker, indem er plötzlich stehenblieb. »Sie gehören zum Hause und kennen ihre Verschrobenheiten noch nicht? Es ist in der Tat sonderbar, daß ihre Mutter dergleichen nachsieht. Aber, unter uns gesagt, ist es mit der Charakterstärke in diesem Hause so eine Sache. Fräulein Mathilde besitzt sie für alle andern mit, und so regiert sie über alle. Heute haben wir nämlich den 30. April...« Damit brach der Akademiker ab und sah Julian verschmitzt an. Dieser lächelte möglichst verständnisinnig.
    »Welchen Zusammenhang mag es zwischen der Hegemonie im Hause, dem Tragen eines schwarzen Kleides und dem 30. April geben? Ich muß doch viel dümmer sein, als ich dachte.«
    »Ich muß Ihnen gestehen...«, sagte er zu dem Akademiker und sah ihn fragend an.
    »Machen wir einen Gang durch den Garten«, schlug dieser vor und nahm mit Entzücken die Gelegenheit wahr, eine lange feingedrechselte Erzählung vom Stapel lassen zu können.
    »Sollte es wirklich der Fall sein, daß Sie nicht wissen, was sich am 30. April 1574 ereignet hat?«
    »Wo?« fragte Julian verwirrt.
    »Auf dem Grève-Platz.«
    Julian war so erstaunt, daß ihm selbst diese Ortsbezeichnung nicht auf die Spur half. Der Grève-Platz war seit uralters her der Ort der öffentlichen Hinrichtungen. Neugier und die Erwartung, irgendeine tragische Begebenheit zu hören, die so recht zu seinem Charakter paßte, brachten in seine Augen jenes Flackern, das ein Erzähler so gern bei seinen Zuhörern sieht. Der Akademiker war entzückt, ein jungfräuliches Ohr zu finden, und erzählte nun lang und breit, warum der schönste junge Mann seines Jahrhunderts, Bonifaz von La Mole 35 , und sein Freund, Hannibal von Coconasso, ein piemontesischer Edelmann, am 30. April 1574 auf dem Grève-Platz enthauptet worden waren. »La Mole war der heißgeliebte Favorit der Königin Margarete von Navarra – und beachten Sie«, setzte der Akademiker hinzu, »daß sich Fräulein von La Mole Mathilde-Margarete nennt. La Mole

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