Rot und Schwarz
mußte. Er stieg auf die Leiter, holte den Band herunter und händigte ihn ihr ein, noch immer ohne zu dem Bewußtsein zu kommen, daß er Mathilde vor sich hatte. Beim Wiederwegstellen der Leiter stieß er aus Übereile mit dem Ellenbogen in einen der Spiegel. Das Klirren der Glassplitter, die auf das Parkett fielen, brachte ihn endlich zur Besinnung. Rasch stammelte er ein paar Entschuldigungsworte. Er wollte höflich sein; aber das war er kaum.
Mathilde begriff, daß sie ihn gestört hatte, und daß er statt mit ihr zu sprechen, lieber weiter über das nachgedacht hätte, was ihn vor ihrem Erscheinen beschäftigte. Nachdem sie ihn eine Weile angeschaut hatte, ging sie langsam wieder. Julian sah ihr nach. Er genoß den Gegensatz zwischen der Schlichtheit ihres heutigen Kleides und der kostbaren Pracht ihrer Gesellschaftstoilette am gestrigen Abend. Der Unterschied in ihrem Gesichtsausdruck war fast ebenso auffällig. Die junge Dame, die sich auf dem Balle des Herzogs von Retz so hochmütig benommen, hatte in diesem Augenblick fast etwas Bittendes im Blick. »Ohne Zweifel«, sagte Julian bei sich, »dieses schwarze Kleid läßt die Schönheit ihrer Gestalt noch mehr zur Geltung kommen. Sie hat die Haltung einer Königin. Aber warum ist sie in Trauer? Wenn ich mich bei irgendwem nach dem Anlaß erkundige, begehe ich am Ende wieder eine Ungeschicklichkeit.«
Julian hatte seine schwärmerische Stimmung völlig verloren. »Ich muß alle Briefe, die ich heute morgen geschrieben habe, noch einmal durchsehen. Gott weiß, was für Lücken und Schnitzer ich darin finden werde.« Als er das erste Schreiben mit gespannter Aufmerksamkeit durchlas, hörte er neben sich das Knistern eines Seidenkleides. Schnell wandte er sich um. Fräulein von La Mole stand zwei Schritte hinter seinem Tisch und lachte. Die abermalige Störung ärgerte Julian.
Mathilde ihrerseits empfand lebhaft, daß sie dem jungen Manne nichts bedeutete. Ihr Lachen sollte nur ihre Verlegenheit bemänteln, und dies gelang ihr.
»Sie denken augenscheinlich an etwas ungemein Interessantes, Herr Sorel«, sagte sie. »Wohl an irgendeine merkwürdige Einzelheit der Verschwörung, der wir die Anwesenheit des Grafen Altamira in Paris verdanken? Erzählen Sie mir, um was es sich handelt! Ich bin begierig, es zu erfahren. Ich werde verschwiegen sein; das schwöre ich Ihnen.« Sie war selbst erstaunt, als sie sich das Wort aussprechen hörte. Was? Sie hatte eine Bitte an einen Untergebenen ihres Vaters? Ihre Verlegenheit wuchs. In leichtem Tone setzte sie hinzu: »Wer hat Sie denn zu einem begeisterten Wesen, zu einem Propheten aus Michelangelos Jüngstem Gericht gemacht, Sie, der Sie sonst so blasiert sind?«
Die lebhafte und indiskrete Frage verletzte Julian tief und gab ihm seine ganze Tollheit wieder.
»Hat Danton recht getan, als er stahl?« fragte er Mathilde unvermittelt mit zusehends wilder werdender Miene. »Hätten die piemontesischen und spanischen Revolutionäre ihr Volk durch Verbrechen bloßstellen sollen? Hätten sie alle Stellen im Heere und alle Orden selbst an Leute ohne Verdienst verteilen; den Schatz in Turin der Plünderung preisgeben sollen? Mit einem Worte, gnädiges Fräulein«, sagte er, indem er mit furchtbarem Blick näher an sie herantrat: »Soll der Mensch, der die Dummheit und das Verbrechen von der Erde vertilgen will, wie ein Sturmwetter daherbrausen und Unheil anrichten, wie es gerade kommt?«
Mathilde erschrak. Sie konnte seinen Blick nicht ertragen und wich etliche Schritte zurück. Einen Augenblick lang schaute sie ihn an. Dann schämte sie sich ihrer Furcht und verließ leichten Schrittes die Bibliothek.
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Zehntes Kapitel
Die Königin Margarete
O Liebe! In welchem Wahnsinn vermagst du nicht, uns Lust finden zu lassen?
Briefe einer portugiesischen Nonne
J ulian las seine Briefe noch einmal. Als es zu Tisch läutete, sagte er sich: »Wie lächerlich muß ich dieser Pariser Puppe erschienen sein! Welche Tollheit war es, ihr ehrlich zu sagen, was ich dachte? Aber vielleicht war die Tollheit nicht so groß. Die Wahrheit war in diesem Falle meiner würdig. Was hat sie mich über vertrauliche Dinge auszufragen? Das war taktlos von ihr. Gegen die gute Sitte. Meine Gedanken über Danton gehören nicht zu dem Amt, für das mich ihr Vater bezahlt.«
Als Julian in den Eßsaal trat, vergaß er seine schlechte Laune über der Verwunderung, Fräulein von La Mole in Trauerkleidung zu sehen, im übrigen aber niemanden von der Familie in
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