Rot und Schwarz
das nach dem Ausspruche des Akademikers das ganze Haus regierte, geruhte, sich mit ihm auf eine Weise zu unterhalten, die an Freundschaft streifte.
»Ich habe mich geirrt!« sagte er sich aber alsbald. »Das ist nicht Vertraulichkeit. Ich spiele die Rolle des Vertrauten im klassischen Trauerspiel. Weiter nichts. Sie hat das Bedürfnis zu plaudern. Ich gelte in dieser Familie für literaturkundig. Ich muß mich an Brantôme, L'Etoile, d'Aubigne machen. Etliche der Anekdoten, die mir Fräulein von La Mole erzählt, werde ich in Zweifel ziehen. Die Rolle des passiven Vertrauten genügt mir nicht!«
Allmählich nahmen Julians Gespräche mit dem imponierenden und dabei ungezwungenen jungen Mädchen einen reizvolleren Charakter an. Er vergaß seine traurige Rolle als rebellischer Plebejer. Er fand Mathilde unterrichtet, ja sogar klug. Ihre Ansichten im Garten waren allerdings ganz anders als die, die sie im Salon äußerte. Einige Male war sie ihm gegenüber von einer Begeisterung und Offenherzigkeit, die im vollkommenen Gegensatz zu ihrem gewöhnlich so hochmütigen und kühlen Benehmen standen.
»Die Kriege der Liga sind die heroischen Zeiten Frankreichs«, erklärte sie ihm eines Tages mit geistsprühenden und enthusiastisch leuchtenden Augen. »Damals kämpfte jeder für irgendeine Sache, die er sich ersehnte. Er kämpfte, um seiner Partei zum Siege zu verhelfen, und nicht, um einen Orden zu ergattern wie zur Zeit Ihres Kaisers. Geben Sie nur zu, daß es damals weniger Selbstsucht und Kleinlichkeit gab! Ich liebe das
Cinquecento
!«
»Und Bonifaz von La Mole war ein Held jenes Jahrhunderts!« entgegnete Julian.
»Zum mindesten wurde er geliebt, wie man zärtlicher kaum geliebt werden kann! Welche heutige Frau würde nicht davor zurückschaudern, den Kopf ihres enthaupteten Geliebten anzufassen?«
Frau von La Mole rief ihre Tochter.
Heuchelei, die Zweck haben soll, darf sich nie verraten. Julian aber hatte Fräulein von La Mole halb und halb zur Vertrauten seiner Bewunderung für Napoleon gemacht.
»Das ist der ungeheure Vorteil, den die Abkömmlinge alter Familien vor uns Plebejern haben«, sagte sich Julian, als er allein im Garten zurückblieb. »Die Geschichte ihrer Vorfahren hebt sie empor über die Gefühlswelt der Alltäglichkeit. Überdies brauchen sie nicht immer an ihren Unterhalt zu denken. Und wie kläglich!« setzte er bitter hinzu. »Ich bin unwürdig, über jene höhere Weltanschauung zu räsonieren. Mein Leben ist nichts als eine Kette von Heucheleien, weil ich keine tausend Franken Rente habe, um wenigstens mein täglich Brot gesichert zu sehen.«
»Wovon träumen Sie?« fragte ihn Mathilde, die eiligst zurückkam,
Julian war müde seiner Selbstverachtung. Stolz und offen äußerte er seine Gedanken. Allerdings ward er purpurrot, als er vor der so reichen jungen Dame von seiner Armut sprach. Aber gerade durch diesen stolzen Ton wollte er hervorheben, daß er um nichts bat. Niemals war er Mathilden so schön erschienen wie in diesem Ausdruck von Feingefühl und Freimut, der ihm oft fehlte.
Etwa vier Wochen später ging Julian im Park des Hauses La Mole nachdenklich auf und ab, aber seine Züge trugen nicht mehr den Ausdruck der Verbitterung und hochmütigen Resignation, den das beständige Gefühl seiner Niedrigkeit ihm aufgeprägt hatte. Eben hatte er Fräulein von La Mole, die sich angeblich beim Laufen mit ihrem Bruder den Fuß verstaucht hatte, bis an die Tür des Salons zurückbegleitet.
»Sie hat sich auf eine recht sonderbare Art auf meinen Arm gestützt«, dachte Julian. »Bin ich ein Narr? Oder sollte es wahr sein, daß sie Geschmack an mir findet? Sie hört mir mit so sanfter Miene zu, selbst wenn ich ihr alle Leiden meines Hochmutes bekenne, Sie, die gegen alle Welt so stolz ist! Man würde im Salon sehr erstaunt sein, wenn man einmal diesen Gesichtsausdruck an ihr sähe. Ganz gewiß, diese sanfte und gütige Miene hat sie sonst vor niemandem.«
Julian hütete sich, die seltsame Freundschaft zu überschätzen. Er verglich sie mit dem bewaffneten Frieden. Jedesmal, wenn man sich wieder traf, fragte man sich sozusagen, ehe man den nahezu vertraulichen Ton des vorhergehenden Abends wieder anschlug: »Sind wir heute Freunde oder Feinde?« Julian war überzeugt, daß er ein für allemal verlor, wenn er sich von diesem stolzen Mädchen nur ein einziges Mal ungestraft beleidigen ließ. »Aber wenn ich früher oder später doch mit ihr brechen muß«, sagte er sich, »ist es da nicht
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