Rot und Schwarz
vorgaukelte. »Welch ein schöner Ball!« sagte er zum Grafen. »Es fehlt nichts.«
»Doch! Es fehlt der Gedanke«, erwiderte Altamira. Und seine Züge verrieten jene Verachtung, die um so schärfer wirkt, weil man erkennt, daß die Höflichkeit es sich zur Pflicht macht, sie zu verhüllen.
»Sie sind doch da, Graf. Der verkörperte Gedanke!«
»Ich bin hier eingeladen meines Namens wegen. Man haßt den Gedanken in Euren Salons. Er darf sich nicht über die Höhe eines Gassenhauers wagen. Dann wird man belohnt. Aber ein denkender Mensch, dessen Einfalle kraftvoll und neu sind, der gilt als Zyniker. Ist Courier nicht von einem Ihrer Richter so bezeichnet worden? Sie haben ihn ins Gefängnis geworfen, ebenso Beranger. Alles, was sich bei Euch durch Geist einigermaßen hervortut, wird von den Pfaffen dem Staatsanwalt überantwortet, und die gute Gesellschaft klatscht Beifall. Das kommt daher, daß Eure altgewordene Gesellschaft die Konvenienz über alles stellt. Ihr werdet Euch nie über die soldatische Tüchtigkeit hinausschwingen. Ihr werdet Murats haben, aber keine Washingtons. Ich sehe in Frankreich nichts als Eitelkeit. Ein Mann, der beim Reden Einfalle hat, sagt leicht ein unvorsichtiges, treffendes Wort, und der Gastgeber empfindet das als Schändung seines Hauses.«
In diesem Augenblick hielt der Wagen des Grafen, in dem Julian mit saß, vor dem Haus La Mole. Julian war verliebt in seinen Karbonaro. Altamira hatte ihm das schöne und offenbar urehrliche Kompliment gemacht: »Sie sind frei von der französischen Oberflächlichkeit, und Sie verstehen das Nützlichkeitsprinzip.« Zufällig hatte Julian vor zwei Tagen das Trauerspiel »Marino Faliero« von Kasimir Delavigne gesehen.
»Hatte Bertuccio Isarello nicht mehr Charakter als alle die venezianischen Dogen?« dachte der rebellische Plebejer bei sich. »Und doch waren das Leute, deren Stammbaum bis ins Jahr 700 hinaufreicht, also noch hundert Jahre über Karl den Großen hinaus, während der vornehmste Adel auf dem Balle des Herrn von Retz sich mit Müh und Not bis ins dreizehnte Jahrhundert nachweisen läßt. Und an keinen von all diesen venezianischen Edlen jener Tage erinnert man sich noch; nur an Bertuccio Isarello. Eine Verschwörung beseitigt alle Titel, welche die gesellschaftliche Willkür geschaffen. Je nachdem einer dem Tod ins Antlitz schaut, bekommt er Rang und Würde. Selbst der Geist verliert sein Ansehen. Was wäre Danton heute im Jahrhundert der Valenods und Rênals? Nichts! Nicht einmal Staatsanwalt!
Und doch! Er hätte sich den Pfaffen verkauft und wäre Minister. Denn im Grunde hat auch der große Danton gestohlen. Auch Mirabeau hat sich verkauft. Und Napoleon hat in Italien Millionen gestohlen. Sonst wäre er an der Armut gescheitert wie so mancher andre. Nur Lafayette hat nie gestohlen. Muß man stehlen? Muß man sich verkaufen? dachte Julian. Diese Frage ließ ihn nicht wieder los.
Als er am andern Morgen in der Bibliothek seine Briefe schrieb, dachte er immer noch an nichts als an sein gestriges Gespräch mit dem Grafen Altamira. »Das muß man zugeben«, sagte er sich nach langem Grübeln, »wenn die spanischen Liberalen das Volk durch Verbrechen bloßgestellt hätten, hätte man sie nicht mit dieser Leichtigkeit hinweggefegt. Es waren hochfahrende und schwatzhafte Kinder ... wie ich!« rief er plötzlich aus, als ob er aus dem Schlafe erwachte.
»Was habe ich Großes geleistet, daß ich mir das Recht nehme, über jene armen Teufel zu Gericht zu sitzen, die doch wenigstens einmal im Leben etwas gewagt, eine Tat unternommen haben? Ich bin wie einer, der vom Tisch aufsteht und sagt: Morgen will ich nicht essen und doch stark und froh sein wie heute. – Weiß ich, wie einem zumut ist auf dem halben Wege zu einer großen Tat?«
Julians Gedankenflug ward gestört, als unverhofft Fräulein von La Mole in der Bibliothek erschien. Die Bewunderung der großen Eigenschaften eines Danton, eines Mirabeau, eines Carnot, die alle ungebrochen blieben, hatte ihn dermaßen mit Begeisterung erfüllt, daß er seine Blicke auf Fräulein von La Mole richtete, ohne seine Gedanken auf sie zu richten, ohne sie zu grüßen, ja ohne sie zu sehen. Als seine weitgeöffneten großen Augen endlich ihre Anwesenheit innewurden, erlosch ihr Glanz. Fräulein von La Mole nahm es voll Bitternis wahr.
Sie ersuchte ihn um einen Band der Geschichte Frankreichs von Vely, die auf dem obersten Regal stand, so daß Julian die größere der beiden Leitern herbeiholen
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