Rot und Schwarz
schicken.«
Julians Blick war unheimlich; sein Ausdruck abscheulich. Er war in Verbrecherstimmung. Ein unglücklicher Mensch allein im Kampfe mit der ganzen Gesellschaft!
»Zur Attacke!« rief Julian.
Mit einem Satz sprang er die Freitreppe hinunter, eilte zu einem protestantischen Buchhändler, kaufte eine dicke Bibel, in deren Einband er Mathildens Brief sehr geschickt verbarg. Dann ließ er sie verpacken und schickte das Paket mit der Eilpost an Fouqué.
Frohgemut schlenderte er in das Palais zurück.
»Jetzt kommen wir daran!« rief er aus, indem er sich in sein Zimmer einschloß und seinen Rock abwarf.
»Gnädiges Fräulein«, schrieb er an Mathilde. »Was soll das? Fräulein von La Mole schickt durch Arsen, ihres Vaters Lakaien, einen allzu verführerischen Brief an einen armen Müllerssohn aus den Bergen, ohne Zweifel, um mit seiner Einfalt zu spielen ...«
Im weiteren wiederholte er die verfänglichsten Sätze aus ihrem Briefe.
Julians Antwort hätte selbst der diplomatischen Vorsicht eines Chevaliers von Beauvaisis Ehre gemacht.
Es war erst zehn Uhr. In seinem Glückstaumel und seinem, für einen armen Teufel so ungewohnten Machtgefühl ging Julian in die Oper. Freund Geronimo sang. Noch nie hatte ihn Musik so berauscht. Er fühlte sieh wie ein Gott. 41
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Vierzehntes Kapitel
Gedanken eines jungen Mädchens
Welche Ratlosigkeit! Wieviel schlaflos verbrachte Nächte! Großer Gott! Werde ich mich lächerlich machen? Er wird mich verachten. Doch er geht fort, lässt mich allein.
Alfred de Musset
M athilde hatte nicht ohne innere Kämpfe an Julian geschrieben. Welcher Art auch ihre Neigung zu ihm anfangs gewesen sein mochte, bald triumphierte sie über den Hochmut, der in ihrem Herzen die Alleinherrschaft gehabt, solange sie sich kannte. Ihre kühle stolze Seele fühlte sich zum erstenmal im Leben von einer Leidenschaft getrieben. Aber wenn diese ihren Hochmut auch bändigte, so blieb Mathilde doch den Gewohnheiten ihres Stolzes treu. Erst acht Wochen voller Seelenkämpfe und nie geahnter Empfindungen gossen ihren inneren Menschen sozusagen um.
Mathilde bildete sich ein, das Glück gefunden zu haben. Dieser Glaube ist in mutigen Herzen, wenn sich ein höherer Geist dazu gesellt, allmächtig. Er war es, der den langen Kampf mit der Dezenz und den tausend Dingen des herkömmlichen Pflichtgefühls in ihr geführt hatte. Eines Morgens war sie bereits um sieben Uhr in das Zimmer ihrer Mutter gekommen und hatte um die Erlaubnis gebeten, sich nach Villequieur zurückziehen zu dürfen. Die Marquise würdigte sie keiner Antwort und gab ihr den Rat, sich wieder ins Bett zu legen. Das war die letzte starke Äußerung der gewöhnlichen Sittsamkeit und des Hanges an der hergebrachten Moral.
Die Furcht, etwas Unschickliches zu tun und die geheiligte Lebensanschauung ihres Kreises zu verletzen, hatte nur geringe Macht über ihre Seele. Menschen wie Croisenois, Caylus und Luz hielt Mathilde nicht für geschaffen, sie zu verstehen. Sie schienen ihr gut, wenn man einen Ratgeber braucht, ehe man einen Wagen oder Landgut kauft. Im Grunde fürchtete sie nichts, als daß Julian unzufrieden mit ihr sein könne.
Mangel an Charakter war ihr abscheulich. Das war das einzige, was sie gegen die eleganten und vornehmen jungen Herren ihrer Umgebung einzuwenden hatte. Je mehr sie sich in ihrer witzelnden Weise über alles lustig machten, was nicht im Geleise der Mode trottete oder davon abirrte, desto mehr verloren sie in ihren Augen.
Sie hatten Schneid. Das war aber auch alles. »Übrigens: gibt es heutzutage eigentlich noch Tapferkeit?« fragte sie sich weiter. »Beim Duell? Das Duell ist nur noch eine Zeremonie. Man weiß dabei alles im voraus, sogar was man zu sagen hat, wenn man fällt. Wenn man auf dem Rasen liegt, drückt man seine Hand aufs Herz, verzeiht großmütig seinem Gegner und schickt einen letzten Gruß an seine Dame, oft nur an eine erdachte, oder an eine, die am Todestage auf den Ball geht, um jeden Verdacht abzulenken. Und die soldatische Tapferkeit? Man reitet vor der Front einer in Stahl blinkenden Schwadron frohgemut der Todesgefahr entgegen. Aber wer will etwas zu schaffen haben mit der Gefahr, die einsam, ungewöhnlich, unvorhergesehen und im häßlichsten Gewande erscheint?«
Mathilde seufzte tief auf.
»Ach, am Hofe Heinrichs III. gab es noch Männer, von Charakter groß wie von Geburt. Ja, wenn Julian bei Jarnac oder bei Moncontour gefochten hätte, wäre ich nicht mehr im Zweifel. Dazumal, in
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