Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
mindesten bot sich die Gelegenheit dazu. Aber Mathilde hatte keine Lust, ihn anzuhören, und verschwand. Julian war darob hocherfreut. Er hätte ihr nichts zu sagen gewußt.
    »Wenn hinter dem allem nicht ein abgekartetes Spiel zwischen ihr und Norbert steckt«, kalkulierte Julian, »so müssen meine kalten Blicke die Ursache der bizarren Verliebtheit sein, die dieses hohe Edelfräulein für mich zu verspüren geruht. Ich wäre dümmer, als es erlaubt ist, wenn ich mich jemals dazu hinreißen ließe, an dieser großen blonden Puppe Geschmack zu finden.«
    Diese Überlegung machte ihn kühler und mathematischer denn je.
    »In der Schlacht, die sich entwickelt«, dachte er weiter, »wird Mathildens Adelsstolz die Bedeutung einer dominierenden Höhe haben. Um diesen Punkt werden wir fechten. Es ist ein strategischer Fehler auf meiner Seite, in Paris zu verbleiben. Wenn alles nur Spiel ist, setzt mich der Aufschub der Reise in Nachteil und Gefahr. «Wäre ich abgereist, was hätte ich dabei riskiert? Ich hätte mich über meine Gegner lustig gemacht, wenn sie sich über mich lustig machen. Angenommen aber, Mathildens Neigung zu mir sei keine Komödie, so hätte ich sie verhundertfacht.«
    Mathildens Brief hatte ihm derart stark die Freude der Eitelkeit zuteil werden lassen, daß er vor lauter Lust nicht daran gedacht hatte, die Zweckmäßigkeit einer Reise gründlich zu erwägen. Es war nun aber ein verhängnisvolles Element seines Charakters, daß er gegen sich selbst wegen begangener Fehler grenzenlos nachträglich war. Darum ärgerte ihn dieser Fehler dermaßen, daß er den erstaunlichen Sieg, der seiner kleinen Niederlage vorangegangen war, so gut wie gänzlich vergaß. In diesem Moment, gegen neun Uhr vormittags, erschien Fräulein von La Mole abermals auf der Schwelle der Bibliothekstüre, warf ihm einen zweiten Brief zu und entschwand wieder.
    »Das wird offenbar ein Roman in Briefen!« lachte Julian und hob den eben gekommenen auf. »Der Feind macht eine Scheinbewegung. Ich werde den kalten Tugendbold markieren!«
    Im Briefe ward um eine entscheidende Antwort gebeten, und zwar in einer schmerzlichen Art, die seiner Seele Heiterkeit erhöhte. Er machte sich den Spaß, die Personen, die ihn (seiner Vermutung nach) zum Narren hielten, in einer zwei Seiten langen Antwort zu mystifizieren. Am Schlüsse zeigte er mit einer scherzhaften Wendung seine Abreise für den nächsten Morgen an. Als der Brief geschrieben war, sagte er sich: »Ich kann ihn ihr im Garten geben«, und ging hinab.
    Er blickte nach Mathildens Fenster. Ihr Zimmer war neben den Gemächern ihrer Mutter, im ersten Stock, unter dem sich ein Zwischenstock befand. Als Julian, den Brief in der Hand, die Lindenallee betrat, die am Hause begann, war er von Mathildens hochgelegenem Fenster aus nicht zu sehen. Das Blätterwerk der alten sorgfältig beschnittenen Bäume vereitelte es.
    »Unglaublich!« sagte sich Julian ärgerlich. »Schon wieder unüberlegt! Wenn man sich einen Scherz mit mir leistet, so muß ich meinen Feinden schon den Spaß machen, mit einem Briefe in der Hand aufzutauchen!«
    Norberts Zimmer lag genau über dem seiner Schwester. Sobald Julian unter dem Deckung bietenden Laubdache der Lindenallee hervorkam, trat er in das Gesichtsfeld seiner vermutlichen Gegner, des Grafen Norbert und seiner Kameraden.
    Fräulein von La Mole zeigte sich hinter den Scheiben ihres Fensters. Er ließ seinen Brief flüchtig sehen. Sie nickte. Julian ging in das Haus zurück und begegnete der schönen Mathilde wie zufällig auf der Haupttreppe. Ihre Augen lachten, als sie behend den Brief ergriff.
    »Welche Leidenschaft glühte in den Augen der lieben Frau von Rênal, wenn sie einen Brief von mir in Empfang zu nehmen wagte, selbst noch, als unsre Beziehungen bereits ein halbes Jahr vertraut waren«, dachte Julian bei sich, als er in sein Zimmer hinaufging. »Ich glaube, sie hat mich kein einziges Mal mit lachenden Augen angesehen.«
    Über das, was er fernerhin dachte, ward er sich nicht so klar wie hierüber. Vielleicht schämte er sich, daß kleinliche Motive darin auftauchen könnten. »Aber wie anders ist Mathilde in ihrer eleganten Morgenkleidung und in ihrem ganzen Wesen. Auf dreißig Schritt Entfernung sieht ihr jeder Kenner ihren gesellschaftlichen Rang an. Das ist ein unleugbarer Vorzug an ihr.«
    Trotz all seiner Ironie war Julian vor sich selber noch nicht ganz ehrlich. Frau von Rênal hatte ihm keinen Marquis von Croisenois zu opfern gehabt. Bei ihr

Weitere Kostenlose Bücher