Rot und Schwarz
war nichts geheimnisvoll oder ruchlos genug. Sie war ihm die Inkarnation des Ideals seiner Jugend, mit einem Worte: die ideale Pariserin. Er ahnte nicht, daß es nichts Lächerlicheres gibt, als dem Pariser Charakter eine Tiefe zuzutrauen, die jenseits von Gut und Böse liegt.
»Es ist sehr wohl möglich, daß sich dieses Trio über mich lustig macht«, dachte Julian. Fortan begegnete er Mathildens Blicken mit finstern kalten Augen. Voll bittrer Ironie stieß er die Freundschaftsbezeigungen zurück, die sie ihm, darob verwundert, zwei- oder dreimal gönnte.
Diese plötzliche Wunderlichkeit reizte die Sinne der von Natur kalten, gelangweilten und mehr für intellektuelle Reize empfänglichen jungen Dame so stark, als es bei ihr überhaupt möglich war. Immerhin herrschte noch viel von ihrem alten Stolze in Mathildens Seele, und die in ihr glühende Verliebtheit, die ihr Glück von einem andern abhängig machte, war von dumpfem Leid durchdrungen.
Julian hatte schon genug Erfahrung, seit er in Paris weilte, um zu unterscheiden, daß diese Schwermut nicht der öde Trübsinn der Langenweile war. Statt wie sonst auf Gesellschaften, Theater und Zerstreuungen aller Art begierig zu sein, mied Mathilde alles das sichtlich.
Von französischen Sängern gesungene Musik langweilte sie in den Tod. Gleichwohl bemerkte Julian, der es sich immer noch zur Pflicht machte, dem Herauskommen der vornehmen Welt aus der Oper beizuwohnen, daß sie sich so oft wie möglich dahin führen ließ. Er glaubte wahrzunehmen, daß sie ihr ehedem in jeder Beziehung vollkommenes seelisches Gleichgewicht teilweise verloren hatte, öfters gab sie ihren Freunden Antworten, deren scharfe Ironie verletzen mußte. Insbesondere schien es Julian, als wenn sie den Marquis von Croisenois zur Zielscheibe nähme. »Der junge Offizier muß das Geld wahnsinnig hochschätzen, wenn er von Mathilde mitsamt ihrem Reichtum immer noch nicht abläßt!« dachte Julian. Eine solche Verhöhnung der Manneswürde empörte ihn, und so war er gegen sie von verdoppelter Kälte. Bisweilen ließ er es in seinen Antworten sogar an der nötigen Höflichkeit fehlen.
So entschlossen Julian war, sich nicht in die vermutete Falle locken zu lassen, Mathildens Gunstbeweise waren an manchen Tagen so auffällig, daß ihm allmählich die Augen aufgingen. Jetzt fand er Mathilde so verführerisch, daß er zuweilen vor ihr in Verwirrung geriet.
»Die Gewandtheit und die Ausdauer dieser weltmännischen jungen Leute wird schließlich doch über meine geringe Erfahrung triumphieren!« warnte er sich. »Ich muß verreisen und all dem ein Ende machen!«
Der Marquis hatte ihm gerade die Verwaltung einer Anzahl von kleinen Gütern und Häusern in Nieder-Languedoc überlassen. Eine Reise dahin war nötig. Ungern gab ihm der Marquis Urlaub. Abgesehen von seinen hohen politischen Plänen war ihm sein Sekretär zum andern Ich geworden.
»Schließlich haben sie mich doch nicht gefangen!« frohlockte Julian, als er sich zur Abreise rüstete. »Mag die Harlekinade, die Fräulein von La Mole ihren Kurmachern vorgeführt hat, ernst gemeint oder nur dazu bestimmt gewesen sein, mich vertrauensselig zu machen: ich habe meinen Spaß daran gehabt.
Wenn keine Verschwörung gegen den Müllerssohn dahintersteckt, dann ist Fräulein von La Mole eine Sphinx, und zwar für den Marquis von Croisenois nicht minder wie für mich. Gestern zum Beispiel war ihre schlechte Laune durch und durch echt, und ich habe den Genuß gehabt, als Favorit einen jungen Herrn aus dem Felde zu schlagen, der ebenso vornehm und reich ist, wie ich plebejisch und arm bin. Das ist mein herrlichster Sieg! Er wird mich im Postwagen aufheitern, wenn ich durch die Einöde des Languedoc fahre.«
Er hatte seine Abreise geheimgehalten, doch Mathilde wußte so gut wie er, daß er am nächsten Morgen Paris für lange Zeit verlassen sollte. Ein heftiges Kopfweh, das in der trocknen Hitze des Salons noch schlimmer geworden wäre, kam ihr zu Hilfe. Sie wandelte fast den ganzen Tag im Garten auf und ab. Ihrem Bruder samt seinen Freunden Croisenois, Caylus, Luz und etlichen andern Mittagsgästen im Hause La Mole setzte sie so lange mit ihren bösen Scherzen zu, bis sie gingen. In diesem Moment ward Julian ein seltsamer Blick zuteil.
»Dieser Blick ist vielleicht Komödie«, dachte Julian. »Aber ihr wogender Busen und ihre sichtliche Verwirrung? Unsinn! Bin ich denn der Mann, der dies alles beurteilen kann? Hier stehe ich dem Erzraffinement der
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