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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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jenen Zeiten der Größe und Kraft, waren die Franzosen keine Puppen. Am Tage einer Schlacht gab es am allerwenigsten Hast und Unruhe. Damals waren die Menschen noch nicht Mumien, noch nicht alle in eine ewig gleiche Schale eingezwängt. Damals gehörte mehr Mut dazu, um elf Uhr abends aus dem Palast Soissons, wo Katharina von Medici wohnte, hinauszugehen, als heutzutage eine Reise nach Timbuktu zu unternehmen. Damals war das Leben eines Mannes eine Kette von Zufällen. Jetzt hat die Zivilisation den Zufall verjagt. Es gibt nichts Unverhofftes mehr. In der Ideenwelt verspottet man es. Wo im wirklichen Leben Zufälle auftauchen, entstehen Paniken. Jede Feigheit, jede Torheit, angesichts eines Zufalles begangen, findet Entschuldigung. Das ist die entartete langweilige moderne Zeit! Was würde der geköpfte Bonifaz von La Mole gesagt haben, wenn er, wiederauferstanden von den Toten, hätte mitansehen können, wie sich Anno 1793 siebzehn Träger seines Namens wie die Schafe gefangennehmen ließen, um auf die Guillotine geschleppt zu werden? Der Tod war ihnen sicher, aber es galt für unschicklich, sich zu wehren und wenigstens noch einen oder zwei Jakobiner niederzuschlagen. Ach, lebten wir in einer Heldenzeit, so führte Julian ein Fähnlein Reiter, und Norbert wäre Priester und regelrechter Verkünder von Sittsamkeit und Alltagsweisheit...«
    Noch vor wenigen Monaten hatte Mathilde daran gezweifelt, je einen Menschen zu finden, der von der allgemeinen Schablone einigermaßen abwich. Es war ihr ein gewisser Genuß gewesen, den jungen Herren ihres Kreises Briefe zu schreiben. Für eine junge Dame war das eine kecke Verletzung der Schicklichkeit, deren Bekanntgabe sie in den Augen des alten Herrn von Croisenois geradezu entehrt hätte. Damals konnte sie an den Tagen, wo sie einen Brief abgeschickt hatte, nachts nicht schlafen. Und doch waren das nur Antworten gewesen. Jetzt hatte sie es gewagt, von ihrer Liebe zu schreiben! Sie hatte (entsetzlich!) zuerst an einen Menschen geschrieben, der gesellschaftlich tief unter ihr stand. Wenn das an den Tag kam, war sie auf ewig in Verruf. Keine der Damen, die mit ihrer Mutter verkehrten, würde dies entschuldigen. Sprechen galt schon fast für unschicklich. Aber schreiben! Napoleon hat einmal gesagt (als er die Kapitulation von Baylen erfuhr): » Es gibt Dinge, die man nicht schreibt! « Und gerade diesen Ausspruch hatte Julian ihr gelegentlich erzählt, gleichsam zur Belehrung im voraus.
    Aber über dies hinaus hatte Mathildens Furcht noch andre Ursachen. An die schlimmen Folgen ihrer Handlung in gesellschaftlicher Hinsicht, an die unheilbare Schande und die allgemeine Verachtung, die ihr da drohten (denn sie hatte ihre Kaste beschimpft!), dachte sie gar nicht. Sie dachte nur daran, daß sie es mit einem Ausnahmemenschen zu tun hatte.
    Julian hatte einen unergründlichen, geheimnisvollen Charakter. Mit ihm in oberflächliche Beziehung zu kommen, war schon schrecklich. Und jetzt stand Mathilde im Begriffe, ihn zu ihrem Geliebten zu machen, vielleicht zu ihrem Herrn und Gebieter!
    »Was wird er alles beanspruchen, wenn er alle Macht über mich hat?« fragte sie sich. »Mag es werden, wie es will! Mit Medea werde ich sagen: Inmitten aller Gefahren habe ich immer noch mich! «
    Sie bildete sich ein, Julian habe keine Achtung vor dem Begriffe Adel des Blutes . Ja, sie glaubte nicht einmal, daß er sie wirklich liebe.
    Gegen diesen letzten qualvollen Zweifel empörte sich ihr weiblicher Stolz. Unduldsam rief sie aus: »Im Schicksal eines Mädchens, wie ich eins bin, muß alles einzigartig und seltsam sein!« Jetzt rang der Hochmut, der ihr von frühester Kindheit anerzogen war, mit der wahren Weibestugend.
    So standen die Dinge, als Julians Abreise die plötzliche Entscheidung brachte. Spät am Abend war Julian so teuflisch, einen schweren Koffer zum Pförtner hinunterschaffen zu lassen. Damit beauftragte er einen Diener, der mit Mathildens Kammerjungfer zarte Beziehungen hatte.
    »Ich weiß nicht, ob dieses Manöver Erfolg hat«, sagte sich Julian. »Aber wenn es ihn hat, so glaubt sie, ich sei abgereist.«
    Höchst vergnügt über diese Farce schlief er ein. Mathilde schloß die ganze Nacht kein Auge.
    Am andern Morgen verließ er frühzeitig und unbemerkt das Haus. Kurz vor acht Uhr kehrte er wieder. Kaum war er in der Bibliothek, da erschien Fräulein von La Mole in der Tür. Julian überreichte ihr seine Antwort. Er dachte, es sei seine Pflicht, auch ein paar Worte zu sagen. Zum

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