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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Leiter einen derben Ruck, damit Mathilde den Laden öffnen konnte.
    Mehr tot als lebendig schwingt sich Julian ins Zimmer.
    »Du! Du bist's!« ruft sie und wirft sich in seine Arme.
    Julian war überglücklich und Mathilde fast ebensosehr. Sie klagte sich laut an und beschuldigte sich vor ihm.
    »Strafe mich für meinen abscheulichen Stolz!« sagte sie und preßte ihn mit ihren Armen an sich, als wollte sie ihn ersticken. »Du bist mein Herr! Ich bin deine Sklavin! Auf den Knien muß ich dich bitten, mir zu verzeihen, daß ich mich gegen dich habe auflehnen wollen.«
    Sie entwand sich seiner Umarmung und fiel vor ihm nieder. »Ja, du bist mein Herr!« flüsterte sie, trunken vor Glück und Liebe.
    »Herrsche immerdar über mich! Strafe deine Sklavin auf das härteste, wenn sie sich wider dich empören will!«
    In einem andern Moment entriß sie sich seinen Armen, zündete eine Kerze an und ging daran, sich ihr Haar abzuschneiden. Nur mit vieler Mühe vermochte Julian dies zu verhindern.
    »Ich will ein Symbol vor Augen haben, daß ich deine Magd bin!« sagte sie. »Wenn mich je wieder mein fluchwürdiger Hochmut verwirrt, dann weise auf mein Haar und sprich: ›Es handelt sich nicht mehr um Liebe oder um die Seelenregung des Augenblicks! Du hast geschworen, mir zu gehorchen. Gehorche bei deiner Ehre!‹
    Julians Mannestum kam seinem Glücke gleich.
    Als das Frührot des Tages die Ostflächen der Schornsteine jenseits des Parkes färbte, sagte Julian zu seiner Geliebten: »Ich muß auf der Leiter zurück! Ich lege mir damit ein Opfer auf, deiner würdig. Ich beraube mich einiger Stunden des höchsten Glückes, das es auf Erden gibt. Dein guter Ruf erheischt es. Wenn du mein Herz kennst, weißt du, welche Gewalt ich mir antue. Bleibe mir immer, was du in dieser Stunde bist! Die Ehre ruft. Das genügt... Ich möchte dir noch sagen, daß man seit meinem ersten Hiersein Verdacht hat, nicht auf Einbrecher, sondern auf Herrn von Croisenois. Dein Vater hat einen Wächter im Garten aufgestellt. Croisenois ist von Spionen umgeben. Er ist keine Nacht unbeobachtet...«
    Mathilde lachte laut auf. Ihre Mutter und eine der Kammerjungfern nebenan erwachten. Man redete durch die Türe. Julian schaute Mathilde ins Gesicht. Sie war blaß geworden. Die Jungfer bekam ein paar Scheltworte zu hören. Die Mutter erhielt keine Antwort.
    »Wenn nur niemand auf den Gedanken kommt, ein Fenster zu öffnen, und die Leiter erblickt!« raunte Julian.
    Ein letztes Mal schloß er Mathilde in die Arme. Dann schwang er sich auf die Leiter. Er kletterte oder vielmehr glitt hinab und war im Nu unten im Garten. Drei Sekunden später lag die Leiter in der Lindenallee, und Mathildens Ehre war außer Gefahr.
    Als Julian wieder zur vollen Besinnung kam, bemerkte er, daß er blutig und halbnackt war. Er hatte sich bei seinem tollkühnen Abrutsch verletzt.
    Sein hohes Glück hatte ihm die volle Tatkraft seines Charakters wiedergegeben. Wenn in diesem Augenblick ein Dutzend Männer auf ihn eingedrungen wären, so hätte er sich ihnen ganz allein entgegengestellt. Es hätte seine Seligkeit nur vermehrt. Glücklicherweise wurde seine soldatische Tüchtigkeit nicht auf die Probe gestellt.
    Nachdem er die Leiter an ihren Platz gebracht und die Kette wieder angelegt hatte, unterließ er es nicht, die Spuren der Leiter unterhalb Mathildens Fenster im Beete der fremdländischen Blumen zu verwischen. Als er im Halbdunkel mit den Händen die lockere Erde breitstrich, fühlte er etwas auf seine Hand fallen. Es war eine lange Locke von Mathildens Haar. Die hatte sie sich abgeschnitten und Julian zugeworfen.
    Sie stand am Fenster.
    »Das schickt dir deine Magd«, rief sie ziemlich laut, »zum Zeichen ewigen Dankes! Ich verzichte auf den Gebrauch meiner Vernunft! Sei du mein Herr!«
    Julian war überwältigt und nahe daran, die Leiter wieder zu holen und abermals hinaufzustürmen. Schließlich aber trug der gesunde Menschenverstand den Sieg davon.

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Zwanzigstes Kapitel
Die japanische Vase
Sein Herz erfasst zunächst gar nicht das ganze Übermaß seines Unglücks. Er ist eher verwirrt als erschüttert. Aber in dem Maße wie seine Vernunft zurückkehrt, fühlt er, wie tief sein Leid geht. Alle Freuden des Lebens sind für ihn zunichte gemacht, er spürt nichts mehr als die spitzen Stacheln der Verzweiflung, die ihn zerreißt. Doch was hilft's, von körperlichem Leiden zu sprechen? Welcher Schmerz, den der Leib allein empfindet, kann mit solchem Leid verglichen

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