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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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werden?
    Jean Paul
    T odmüde war Julian bei Sonnenaufgang in tiefen Schlaf gefallen. Kaum vermochte ihn die Frühstücksglocke zu wecken.
    Bald nach ihm erschien Mathilde im Frühstückszimmer. Als er eine Flut von Liebe aus den Augen dieser schönen, mit Huldigungen so überschütteten Aristokratin hervorbrechen sah, schwelgte sein Stolz einen Augenblick. Aber schon in der nächsten Sekunde erschrak sein Verstand. Mathilde hatte ihr Haar absichtlich so geordnet, daß er auf den ersten Blick erkannte, welch großes Opfer sie ihm in der vergangenen Nacht durch das Abschneiden ihres Haares gebracht hatte. Auf der ganzen einen Seite hatte sie sich einen halben Zoll von ihrem schönen aschblonden Haar abgeschnitten.
    Auch im übrigen zeigte sie sich während des Frühstücks sehr unvorsichtig. Es machte Julian beinahe den Eindruck, als wolle sie ihre tolle Leidenschaft für ihn aller Welt kundtun. Zum Glück waren Herr wie Frau von La Mole eingehend damit beschäftigt, sich über das bevorstehende Ordensfest zu unterhalten, bei dem der Herzog von Chaulnes des blauen Bandes ledig bleiben sollte.
    Gegen Ende der Mahlzeit geschah es, daß Mathilde den Geliebten wie im Scherz: Mein Gebieter! nannte. Er errötete bis an die Haarwurzeln.
    War es Zufall oder eine Maßregel der Frau von La Mole: Mathilde war sich an diesem Tage keinen Augenblick selbst überlassen. Gleichwohl fand sie abends, als man das Eßzimmer verließ, Gelegenheit, Julian zu sagen:
    »Halten Sie es nicht für einen Vorwand meinerseits! Mutter hat mir eben mitgeteilt, daß eine ihrer Kammerfrauen nachts in meinem Appartement schlafen soll.«
    Der Tag verging ihm im Fluge. Julian war auf dem Gipfel des Glückes. Am nächsten Vormittag war er von früh sieben Uhr an in der Bibliothek. Er hoffte, Mathilde werde ihn dort suchen. Er hatte einen endlosen Brief an sie geschrieben.
    Erst mehrere Stunden später, beim Frühstück, bekam er sie zu Gesicht. Sie war mit der größten Sorgfalt frisiert. Die Stelle des verschnittenen Haars war mit erstaunlicher Kunst verdeckt. Ein paarmal sah sie Julian an, mit ruhigem, artigem Blick. Sie dachte nicht daran, ihn Mein Gebieter! zu nennen. Julian vermochte vor Verwunderung kaum zu atmen. Offenbar bereute sie alles, was sie ihm zuliebe getan hatte.
    Nach reiflicher Überlegung war sie zu dem Ergebnis gekommen, Julian sei, wenn auch keine ganz gewöhnliche Alltagsnatur, so doch zum mindesten nicht genial genug, um der seltsamen Torheiten wert zu sein, die sie für ihn gewagt. Mit einem Worte, die Liebe war ihrer Welt entflohen. Sie war liebesmüde.
    Julians Herz hingegen war wirr wie das eines Achtzehnjährigen. Während des Frühstücks, das ihn endlos dünkte, peinigten ihn durcheinander Ungewißheit, Erstaunen und Verzweiflung. Sobald der Anstand es erlaubte, eilte oder vielmehr flog er nach dem Pferdestall. Er sattelte sich sein Pferd selbst und trabte zum Tore hinaus. Er fürchtete, sich durch irgendwelche Schwäche zu entehren.
    »Ich muß mein Herz durch körperliche Anstrengung töten«, sagte er zu sich, als er durch den Wald von Meudon galoppierte. »Was habe ich getan, was gesagt, daß ich solche Ungnade verdiene?«
    Als er heimwärts ritt, nahm er sich vor, an diesem Tage nichts zu sagen, nichts zu tun. »Ich muß körperlich tot sein, wie ich es seelisch bin.«
    In der Tat lebte Julian nicht mehr; nur sein Leichnam bewegte sich noch.
    Knapp vor dem Mittagsmahl betrat er den Salon. Mathilde bestürmte gerade ihren Bruder und den Marquis von Croisenois, den Abend nicht bei der Marschallin von Fervaques zu verbringen. Julian hatte die Empfindung, daß sie kaum schmeichlerischer und liebenswürdiger zu ihnen sein könne.
    Nach Tisch stellten sich die Herren Caylus, Luz und mehrere ihrer Kameraden ein. Es sah aus, als hätte Fräulein von La Mole im Umgange mit den brüderlichen Freunden die Förmlichkeit eingeführt. Obgleich das Wetter an diesem Abend herrlich war, bestand sie darauf, nicht in den Garten zu gehen, und erlaubte auch keinem, sich aus der Nähe ihrer Mutter zu entfernen. Wie im Winter bildete das blaue Sofa den Mittelpunkt der Gesellschaft.
    Mathilde empfand eine Abneigung gegen den Garten; zum mindesten kam er ihr langweilig vor. Er erinnerte sie zu stark an Julian.
    Unglück verringert den Verstand. Julian beging die Ungeschicklichkeit, sich auf den niedrigen Rohrstuhl zu setzen, der ehedem Zeuge seiner glänzenden Triumphe gewesen war. Aber heute richtete niemand das Wort an ihn. Seine Anwesenheit

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