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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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hatte. Bisweilen auch, vom Fluge in die Höhen ermattet, wünschte sie sich die Augenblicke des Glücks zurück, die sie bei ihm gefunden hatte. Aber zu solchen Erinnerungen gesellte sich ihr stets die Reue. Mitunter litt sie arg darunter.
    »Auch in ihrer schwachen Stunde«, sagte sie sich, »darf sich eine junge Dame meiner Art höchstens einem hervorragenden Manne zuliebe vergessen. Man soll nicht sagen dürfen, sein hübsches Gesicht oder seine Schneidigkeit zu Pferd hätte mich verführt. Seine klugen Gespräche über Frankreichs Entwicklung und seine Gedanken über die Ähnlichkeit der Ereignisse, die am Horizonte lauern, mit der englischen Revolution von 1688, die sind daran schuld gewesen!« Und wenn sie Gewissensbisse verspürte, so sagte sie sich: »Ich bin verführt worden als ein schwaches Weib, aber nicht wie jedes beliebige Schäfchen durch äußere Vorzüge. Wenn wieder eine Revolution ausbricht, warum sollte Julian Sorel dann nicht die Rolle des Herrn Roland spielen und ich die der Frau Roland? Ihre Rolle wäre mir lieber als die der Frau von Staël. Amoralität im Wandel bringt einen im neunzehnten Jahrhundert in Verruf. Man soll mir gewiß keinen zweiten Fehltritt vorzuwerfen haben. Ich würde vor Scham –«
    Trotz solch ernster Grübeleien schaute sie Julian oft an und fand in seinen geringsten Betätigungen köstliche Grazie.
    Sie rühmte sich: »Zweifellos ist es mir gelungen, in ihm jedweden Gedanken an vermeintliche Rechte auf mich zu tilgen. Dies beweist mir übrigens der Schmerz und die tiefe Leidenschaftlichkeit, mit der mir der arme Junge vor acht Tagen seine Liebe gestanden hat. Ich muß freilich zugeben, daß es recht wunderlich von mir war, mich über einen Ausdruck von ihm zu ärgern, in dem ebensoviel Verehrung wie Leidenschaft lag. Bin ich nicht seine Frau? Es war ganz natürlich, daß er so gesagt hat, und im Grunde auch liebenswürdig. Obgleich ich ihm hundertmal und wirklich herzlos von dem oder jenem Flirt erzählt habe, der kein andres Motiv hatte als die pure Langeweile, so liebt er mich doch noch. Er ist auf diese Herren eifersüchtig. Ach, wenn er wüßte, wie ungefährlich sie mir sind! Und wie kümmerlich sie sich neben ihm ausnehmen, alle einander gleich, einer wie der andre!«
    Unter solcherlei Gedanken kritzelte sie aufs Geratewohl Linien auf ein Blatt ihres Notizbuches. Eins der entstandenen Profile überraschte und entzückte sie: es hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Julians Gesichtsschnitt.
    »Ein Wunder der Liebe!« frohlockte Mathilde. »Unbewußt habe ich sein Bildnis gezeichnet.«
    Sie eilte in ihr Zimmer, schloß sich ein und versuchte nunmehr ernstlich und mit großem Eifer, Julians Silhouette zu zeichnen, aber es gelang ihr nicht. Das durch Zufall geschaffene Profil war und blieb am meisten ähnlich. Sie war glückselig darüber. Es war ihr der klare Beweis einer großen Leidenschaft.
    Sie vermochte die kleine Zeichnung erst aus der Hand zu legen, als die Marquise sie rufen ließ, um mit ihr in die italienische Oper zu fahren. Lediglich weil sie dachte, Julian zu sehen, ging sie gern mit. Sie nahm sich vor, ihre Mutter zu veranlassen, Julian mit in ihre Loge zu nehmen.
    Sie sah nur langweilige Menschen. Julian ließ sich nicht blicken. Während des ersten Aktes träumte Mathilde von dem Geliebten in bacchantischer Trunkenheit. Im zweiten Akte taten es ihr ein paar Worte der Liebe an, zu denen die Musik eben nur Cimarosa geschaffen haben konnte. Die Heldin der Oper sang:
    Devo punirmi,
Se troppo amai
 ...
    Von dem Augenblick an, da sie diese sublime Arie hörte, entschwand ihr die ganze irdische Welt. Wenn man sie ansprach, gab sie keine Antwort. Ihre Mutter tadelte sie. Mit Mühe zwang sich Mathilde, sich ihr zuzuwenden. Sie war auf einem Gipfel der Verzückung angekommen, der nicht minder hoch war wie der, auf den sich Julian im Moment seiner heftigsten Leidenschaft verstiegen hatte. Die köstliche göttliche Melodie zu jenen Worten, die so wunderbar zu ihrer eigenen Lage paßten, wich ihr nicht aus der Seele, auch nicht, wenn sie Julians nicht unmittelbar gedachte. So war es die Musik, der es Mathilde verdankte, daß sie an diesem Abend in die Stimmung kam, in der Frau von Rênal immer war, wenn sie Julians gedachte. Die Hirnliebe ist zweifellos geistvoller als die wahre Liebe, aber begeisterte Augenblicke hat sie selten. Sie kennt sich zu gut; unaufhörlich beobachtet sie sich selber. Statt das Denken aus dem Geleise zu bringen, baut sie nur mit

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