Rot und Schwarz
blieb gleichsam unbemerkt, ja noch schlimmer: die Freunde Mathildens, die neben ihm am Ende des Sofas saßen, drehten ihm geflissentlich den Rücken zu; wenigstens schien es ihm so.
»Ich bin in die allerhöchste Ungnade gefallen«, dachte er bei sich und begann seine Verächter zu studieren.
Der Onkel des Herrn von Luz hatte ein hohes Amt am Hofe inne. Der elegante junge Offizier erzählte, sein Onkel sei um sieben Uhr nach Saint-Cloud gefahren, wo er über Nacht zu bleiben gedächte. So anspruchslos er dies vorbrachte, so renommierte er doch offenbar damit.
Sodann beobachtete Julian den Marquis von Croisenois. Mit seinen durch das Unglück geschärften Augen erkannte er, daß der liebenswürdige, gutmütige junge Mann die Manie hatte, allen Dingen Geheimnisse anzudichten. Dies ging soweit, daß er mißlaunig und trübsinnig wurde, wenn er ein halbwegs wichtiges Ereignis auf einer einfachen und ganz natürlichen Ursache beruhen sah.
»Ein verrückter Kerl!« sagte sich Julian. Im ersten Jahre seines Pariser Aufenthalts, als er eben dem Seminar entronnen war, hatten ihn diese fashionablen jungen Herren mit ihrem ihm noch ungewohnten Dandytum bezaubert. Er hatte sie maßlos bewundert. Jetzt begann sich ihm ihr wirkliches Wesen zu entschleiern.
Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke: »Ich spiele hier eine unwürdige Rolle.« Er nahm sich vor, seinen Rohrstuhl auf möglichst geschickte Weise zu verlassen. Eine Weile dachte er nach; aber seine Phantasie war in ganz andrer Richtung gefesselt. Es fiel ihm nichts Gescheites ein. So mußte er sich an sein Gedächtnis wenden; doch es war zu arm an derartigen Erfahrungen. Er war noch zu wenig Weltmann. Und so erhob er sich mit grober, allen in die Augen fallender Unbeholfenheit und verließ den Salon in einer Art, die sein Unbehagen nur allzu deutlich verriet.
Gleichwohl ließen ihn die kritischen Betrachtungen, die er eben über seine Nebenbuhler angestellt hatte, sein Unglück nicht allzu tragisch nehmen. Auch kam seinem Stolze die Erinnerung an das zu Hilfe, was sich zwei Nächte zuvor ereignet hatte. »Mögen sie noch so vor ihr brillieren«, sagte er sich, als er einsam durch den Park schritt, »keinem von ihnen ist Mathilde je das gewesen, was sie zweimal in meinem Leben mir war!«
Weiter ging seine Weisheit nicht. Der Charakter des sonderlichen Menschenkindes, das von der Hand des Schicksals zur unumschränkten Herrin seines Glücks gemacht worden war, blieb ihm ein Brief mit sieben Siegeln.
Am folgenden Tage ritt er abermals sich und sein Pferd todmüde. Abends mied er das blaue Sofa, dem Mathilde treu blieb. Er machte die Wahrnehmung, daß Graf Norbert ihn keines Blickes würdigte, wenn er ihm im Hause begegnete. »Er muß sich sichtlich Gewalt antun«, sagte sich Julian. »Er ist gegen seine Natur unhöflich.«
Schlaf wäre eine Wohltat für ihn gewesen. Aber trotz der körperlichen Erschöpfung fingen allzu verführerische Erinnerungen an, seine Einbildung zu umfluten. Auch hatte er nicht genug Geist, um zu bedenken, daß seine langen Ritte durch die Wälder um Paris nur Wirkung auf ihn ausübten, keinesfalls aber auf Mathildens Herz und Hirn, daß er also sein Schicksal dem Zufall überließ.
Er hatte das Gefühl, daß es ein unsagbarer Trost für ihn wäre, wenn er mit Mathilde sprechen könnte. Aber was hätte er ihr sagen dürfen?
Da geschah es eines Morgens, um sieben Uhr, als er in der Bibliothek saß und gerade hierüber nachgrübelte, daß Mathilde eintrat.
»Ich weiß, Herr Sorel: Sie wünschen mich zu sprechen ...«, begann sie.
»Allmächtiger, wer hat Ihnen das gesagt?«
»Einerlei! Ich weiß es. Wenn es sich mit Ihrer Ehre verträgt, können Sie mich zugrunde richten oder es mindestens versuchen. Aber diese Gefahr, die ich für Unsinn halte, wird mich gewiß nicht hindern, offen und ehrlich zu sein. Ich liebe Sie nicht mehr. Meine tolle Phantasie hat mich betrogen ...«
Das war ein schrecklicher Schlag für Julian. Von seinem Liebesleid verführt, versuchte er sich zu rechtfertigen. Nichts war törichter. Gegen Abneigung hilft keine Verteidigung. Aber die Vernunft hatte ihre Gewalt über seine Handlungen verloren. Ein dunkler Trieb machte ihn blind. Er fürchtete die Entscheidung. Solange er sprach – so wähnte er –, war doch noch nicht alles zu Ende!
Mathilde hörte nicht auf den Inhalt seiner Worte, deren bloßer Klang sie reizte. Sie begriff nicht, daß Julian die Kühnheit gehabt hatte, sie zu unterbrechen.
Die moralischen
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