Rot und Schwarz
Gedanken.
Wieder zu Haus, behauptete Mathilde, sie habe Fieber und könne nicht schlafen. Die halbe Nacht verbrachte sie am Flügel. Immer wieder sang sie die Worte der Arie, die sie so entzückt hatte:
Devo punirmi,
Se troppo amai
...
Das Ergebnis dieser närrischen Nacht war, daß sich Mathilde einbildete, ihre Liebe überwunden zu haben. Den ganzen folgenden Tag über erfaßte sie jede Gelegenheit, sich den Sieg über ihre tolle Leidenschaft zu beweisen. Ihr Hauptbestreben war, Julian in jeder Hinsicht zu mißfallen. Dabei entging ihr keine seiner Bewegungen.
Julian war zu unglücklich 42 und vor allem zu erregt, als daß er die äußere Betätigung eines so komplizierten inneren Zustandes begriffen hätte. Noch weniger erkannte er, wie günstig das Spiel für ihn stand. Er warf seinen Einsatz auf die falsche Seite. Noch nie hatte er dermaßen gelitten. Was er tat, stand in nur geringer Beziehung zu seinem Verstande. Wenn ihm irgendein nüchterner Menschenkenner gesagt hätte: »Beeilen Sie sich, aus dieser Ihnen günstigen Stimmung Vorteil zu ziehen! Bei solcher Hirnliebe, wie man sie in Paris findet, dauert ein bestimmter Zustand nie länger denn zwei Tage«, so hätte er ihn verständnislos angestarrt.
Aber so exaltiert Julian auch war: sein Ehrgefühl ließ sich nicht beirren. Seine erste Pflicht war Verschwiegenheit. Davon ging er nicht ab. Sich Rat zu holen und seine Herzensnot dem ersten besten zu beichten wäre ihm ein ebensolches Glück gewesen wie dem Pilger in der glühenden Wüste ein Tropfen frischen Wassers vom Himmel gespendet. Julian erkannte die Gefahr. Er fürchtete, mit einem Tränenstrom zu antworten, wenn ihn jemand indiskret ausgefragt hätte. Deshalb schloß er sich in sein Zimmer ein.
Er sah Mathilden lange im Garten Spazierengehen. Als sie endlich wieder in das Haus gegangen war, begab er sich hinunter und ging zu dem Rosenstrauch, an dem sie sich eine Malmaison abgebrochen, hatte.
Es war Nacht geworden und stockdunkel. So konnte er sich ganz seinem Kummer überlassen, ohne zu fürchten, daß man ihn sah. Er war sich klar, daß Mathilde eine Liebelei mit einem der jungen Offiziere, mit denen sie so vergnügt geplaudert, haben müsse.
»Mich hat sie geliebt, aber sie hat erkannt, daß ich nicht viel wert bin!« sagte er sich. »Wahrlich, ich tauge nicht viel!« Das war im Moment seine vollste Überzeugung. »Alles in allem bin ich ein fader gewöhnlicher Mensch, langweilig für jedermann, mir selber unerträglich.«
Alle seine guten Eigenschaften, alle Dinge, die er sonst enthusiastisch liebte, alles das war ihm in den Tod zuwider. Und mit dieser verkehrten Phantasie unterfing er sich, das Leben zu beurteilen! In solch einen Irrtum kann nur ein höherer Mensch verfallen.
Mehrmals kam ihm der Gedanke an den Selbstmord. Der Tod dünkte ihn verlockend, wie köstliche Ruhe, ein Labsal dem Verschmachtenden in der Wüste.
»Aber wenn ich tot bin, wird sie mich erst recht verachten!« rief er aus. »Welch häßliches Andenken würde ich ihr hinterlassen!«
Ein Mensch, der in den tiefsten Abgrund des Unglücks gestürzt ist, hat als allerletzte Zuflucht nur den Mut. Julian war nicht genial genug, um sich zu sagen: »Ich muß etwas wagen!« Wie er so dastand und nach Mathildens Fenster hinaufstarrte, sah er durch die Spalten der Läden, daß sie das Licht auslöschte. Im Geiste erstand ihr entzückendes Zimmer vor ihm. Ach, einmal nur war er dort!
Weiter flog seine Phantasie nicht...
Es schlug ein Uhr. Als er den Glockenton hörte, durchzuckte es ihn: »Ich muß hinauf zu ihr!«
Seine Seele ward erleuchtet. Im Nu begründete er diesen Gedanken tausendfach. »Kann ich noch unglücklicher werden?« 43 sagte er sich. Er lief nach der Leiter. Der Gärtner hatte sie angekettet. Julian zersprengte ein Glied der Kette mit Hilfe des Hahnes einer seiner kleinen Pistolen. Sodann richtete er die Leiter rasch auf und lehnte sie gegen Mathildens Fenster.
»Sie wird erzürnt sein und mich mit Verachtung überschütten«, sagte er sich. »Was tut das? Ich gebe ihr einen Kuß, einen letzten Kuß, und dann gehe ich in mein Zimmer und schieße mich tot. Meine Lippen müssen ihre Wangen berühren, ehe ich sterbe!«
Er flog die Leiter hinauf und klopfte an den Fensterladen. Nach ein paar Augenblicken vernahm es Mathilde.
Sie wollte den Laden öffnen, aber die Leiter war daran gelehnt. Julian klammerte sich an den eisernen Haken, der dazu diente, den offenen Laden festzuhalten, und versetzte der
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