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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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der Herzog ein kleines Restaurant.
    In einem Stübchen dieses armseligen Lokals hatte Julian die Ehre, Seiner Durchlaucht die vier Seiten aufzusagen. Als er damit fertig war, sagte der Herzog: »Bitte, noch einmal und langsamer!«
    Der Fürst machte sich Notizen.
    »Gehen Sie zu Fuß zur nächsten Poststation. Lassen Sie Ihre Sachen und Ihren Wagen hier. Reisen Sie auf einem beliebigen Wege nach Straßburg, und am 22. dieses Monats (man schrieb den 10.) finden Sie sich um halb ein Uhr wieder hier in diesem Restaurant ein. Gehen Sie erst in einer halben Stunde und seien Sie schweigsam!«
    Mehr bekam Julian nicht zu hören. Es genügte, um Julian mit der höchsten Bewunderung zu erfüllen. »Also so«, sagte er sich, »so wickeln sich Staatsaktionen ab! Was hätte der große Staatsmann wohl gesagt, wenn er die leidenschaftlichen Schwätzer von vorvorgestern mit angehört hätte?«
    Julian brauchte zwei Tage, um nach Straßburg zu gelangen. Er machte einen Umweg. Er hatte ja Zeit.
    Der Abbé Castanède, das Oberhaupt der Ordenspolizei an der Nordgrenze, hatte Julian zu seinem Glücke nicht erkannt. In Straßburg dachten die Jesuiten trotz ihres heiligen Eifers nicht daran, Julian zu beobachten. Er sah in seinem blauen Rocke mit der Ordensrosette ganz aus wie ein junger Offizier in Zivil, der sich nur mit sich selbst beschäftigte.

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Vierundzwanzigstes Kapitel
Straßburg
Bezauberung! Du hast der Liebe ganze Kraft, ihre ganze Macht, Leiden zu erdulden. Ihre zauberhaften Wonnen, ihre süßen Freuden walten allein jenseits deines Reiches. Als ich sie schlummernd sah, konnte ich nicht sagen: Sie ist ganz mein mit ihrer engelgleichen Schönheit und ihrer sanften Schwachheit. Nun ist sie in meiner Gewalt, so, wie der Himmel sie in seinem Erbarmen schuf, ein Mannesherz zu bezaubern.
    Ode von Schiller
    G ezwungen, acht Tage in Straßburg zu verweilen, suchte sich Julian in ruhmreiche kriegsgeschichtliche und vaterländische Erinnerungen zu vertiefen.
    War er eigentlich verliebt?
    Er wußte es nicht, aber das fühlte er in seiner Seelennot, daß Mathilde die Alleinherrscherin über seine Gemütsstimmung wie über seine Gedankenwelt war. Er hatte all seine Willenskraft nötig, um sich vor der Verzweiflung zu bewahren. An etwas zu denken, das in keiner Beziehung zu Fräulein von La Mole stand, war er nicht imstande. Ehedem, bei Frau von Rênal, hatten ihn seine ehrsüchtigen Träumereien und kleinen Eitelkeitserfolge dem reinen Zustand der Verliebtheit entzogen; Mathilde ließ nichts neben sich aufkommen. Wenn er in die Zukunft schaute, sah er immer nur sie. Und allerwegen in dieser Zukunft erblickte er Erfolglosigkeit. Er, der in Verrières voller Überhebung und Hochmut gewesen, war der lächerlichsten Bescheidenheit verfallen.
    Noch vor drei Tagen hätte er den spionierenden Pfaffen am liebsten ermordet. Jetzt in Straßburg hätte er jedem Kinde recht gegeben, das in Streit mit ihm geraten wäre. Wenn er an die Widersacher und Feinde zurückdachte, die er im Laufe seines Lebens gehabt hatte, war es ihm, als hätte er – Julian – immer unrecht gehabt. An diesem Wandel seiner Selbstbeurteilung war einzig und allein der Umstand schuld, daß seine zügellose Einbildungskraft, die ihm bisher glänzende Zukunftsbilder vorgegaukelt hatte, mit einem Male zu seiner unversöhnlichen Feindin geworden war.
    Die völlige Einsamkeit des Reiselebens machte seine verdüsterte Phantasie noch dunkler. Einen Freund bei sich zu haben wäre ihm ein Labsal gewesen. So aber sagte er sich: »Wo auf der Welt schlägt für mich ein Herz? Und selbst wenn ich einen Freund hätte, müßte ich als Ehrenmann schweigsam sein wie ein Grab.«
    In seiner Melancholie machte er Spazierritte in die Umgegend von Kehl, einem Orte, der durch Desaix und Gouvion Saint-Cyr auf immerdar berühmt geworden ist. Ein deutscher Bauer zeigte ihm die Rheininseln und das Gelände, wo sich die Bravour jener großen Generale betätigt hatte. Die Zügel in der Linken, hielt Julian in der Rechten die vortreffliche Karte, die des Marschalls Saint-Cyr Denkwürdigkeiten schmückt. Plötzlich hörte er ein freudiges »Hallo!«.
    Es war Fürst Korasoff, sein Londoner Freund, der ihn vor ein paar Monaten in die Anfangsgründe des höheren Dandytums eingeweiht hatte. Ganz im Sinne dieser erhabenen Kunst begann Korasoff, der seit gestern in Straßburg und seit einer Stunde in Kehl war und nie im Leben eine Zeile über die Belagerung von 1796 gelesen hatte, einen längeren Vortrag

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