Rot und Schwarz
Höflichkeit ward belohnt. Gegen acht Uhr meldet man die Marschallin von Fervaques. Julian verschwand unauffällig und erschien bald darauf wieder im sorgfältigsten Gesellschaftsanzug. Für diese Respektsbezeigung war ihm Frau von La Mole sehr dankbar. Um ihre Zufriedenheit zu bekunden, erzählte sie der Marschallin von Julians Mission.
Er nahm neben Frau von Fervaques Platz, und zwar so, daß Mathilde seine Augen nicht sehen konnte. Nach allen Regeln der Kunst placiert, begann er Frau von Fervaques anzuschwärmen. Der erste der dreiundfünfzig Briefe des Fürsten fing nämlich mit einer Tirade in diesem Genre an.
Die Marschallin brach auf, um in die Komische Oper zu gehen. Julian eilte gleichfalls hin. Im Vestibül traf er den Chevalier von Beauvaisis, der ihn mit in eine Loge nahm, die den Edelleuten der Kammer gehörte. Sie lag just neben der Loge der Frau von Fervaques.
Julian blickte unablässig zu ihr hin. Beim Nachhausegehen nahm er sich vor: »Ich muß ein Tagebuch über meine Belagerung führen. Sonst führe ich die einzelnen Angriffe nicht richtig durch.« So zwang er sich, zwei, drei Seiten über diesen ihm im Grunde gleichgültigen Gegenstand niederzuschreiben, und vergaß dabei zu seiner Verwunderung fast die Geliebte.
Mathilde hatte während seiner Reise beinahe nicht an ihn gedacht. »Er ist doch nur ein gewöhnlicher Mensch«, sagte sie sich. »Allerdings wird mich sein Name immerdar an die größte Torheit meines Lebens erinnern. Man muß wohl oder übel zu der vulgären Handhabung von Tugend und Ehre zurückkehren. Ein Weib, das sich über diese Dinge hinwegsetzt, verliert den Boden unter ihren Füßen.«
Und so benahm sie sich dem Marquis von Croisenois gegenüber mehr entgegenkommend denn bisher. Er war toll vor Freude. Freilich wäre er arg verblüfft gewesen, wenn ihm jemand verraten hätte, daß das, was ihn so stolz machte, im Grunde nichts war als Mathildens Resignation.
Alle ihre Gedanken änderten sich mit einem Schlage, als sie Julian wiedersah. Jetzt sagte sie sich: »Er und kein andrer ist mein wahrer Gatte. Wenn meine Bekehrung zur Sittlichkeit ehrlich ist, muß ich ohne Frage ihn heiraten.«
Sie hatte von Julians Seite Aufdringlichkeiten und Unglücksmienen erwartet und sich ihre Antworten zurechtgelegt, falls er nach der Tafel den Versuch machen würde, einige Worte an sie zu richten. Darauf war sie gefaßt. Statt dessen blieb er gelassen im Salon. Ja, er wandte seinen Blick keinmal nach dem Garten, so schwer ihm dies fiel.
»Am besten erfolgt die unabwendbare Auseinandersetzung sofort«, dachte Fräulein von La Mole und ging allein in den Garten. Julian kam nicht. Sie wandelte vor den Glastüren des Salons auf und ab. Dabei sah sie, wie er drinnen angelegentlich beschäftigt war, der Marschallin von den verfallenen Burgen am Rhein zu erzählen, die über den Hängen thronen und dem Stromtale seinen eigenartigen Charakter verleihen. Er verfiel in einen gefühlsseligen romantischen Wortschwall, der in manchem Salon für geistvoll gilt.
Fürst Korasoff wäre stolz auf seinen Schüler gewesen, hätte er alles das beobachten können. Der Abend verlief nach seiner Voraussage. Ebenso hätte er Julians Verhalten in den nächsten Tagen gebilligt.
Auf Anregung der geheimen Regierung war ein Ordensregen zu erwarten. Die Marschallin von Fervaques hatte das Verlangen, ihrem Großonkel das Großkreuz des Heiligen-Geist-Ordens zu erwirken. Dasselbe wollte der Marquis für seinen Schwiegervater. Beide vereinigten ihre Bemühungen, und infolgedessen erschien Frau von Fervaques fast täglich im Hause La Mole. Von ihr erfuhr Julian, daß der Marquis sichere Anwartschaft auf einen Ministerposten hatte. Die Kamarilla stand mit ihm in einem wahrhaft genialen Komplott, demgemäß sich die jetzige Staatsverfassung ohne Schwertstreich binnen dreier Jahre in eine absolute Monarchie zurückverwandeln sollte.
Wenn der Marquis Minister wurde, konnte Julian auf ein Bistum rechnen. Aber vor seinen Augen lagen alle diese Machenschaften wie in einem Nebel. Seine Phantasie sah sie verschwommen in weiter Ferne. Er war ein Besessener vor Qual und Kummer. Er beurteilte die Welt und das Leben nur noch in Beziehung zu seinen Erfolgen Mathilden gegenüber. Er rechnete mit Jahren, ehe er sich wieder von ihr geliebt sah. Sein sonst so kühler Kopf war in einen Zustand völliger Unvernunft geraten. Von allen Eigenschaften, die ehedem seine Stärke waren, verblieb ihm nur ein Rest von Festigkeit. In seinem
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