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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Moment: zugleich erwachte sein Unglück. Er beendete die Abschrift des Briefes. Das brachte ihn beinahe in heitere Stimmung. »Sollte das wirklich ein junger Mann verfaßt haben?« fragte er sich. Manche Sätze waren neun Zeilen lang.
    Am untern Rande der letzten Seite stand eine Bleistiftnotiz: Man überbringe jeden Brief persönlich, zu Pferd, in blauem Rock und schwarzer Krawatte. Man händige ihn dem Pförtner ein, mit düsterer Miene und ganz melancholischen Augen. Bemerkt man die Kammerjungfer, so wische man sich verstohlen die Augen und spreche ein paar Worte mit ihr.
    Alles das führte er vorschriftsmäßig aus.
    »Was ich da beginne, ist tollkühn«, dachte er bei sich, als er langsam vom Hause Fervaques wieder wegritt. »Aber Korasoff hat die Verantwortung. Einer allgemein als unnahbar verschrienen Frau einen Liebesbrief zu schreiben! Ich werde mit der tiefsten Verachtung gestraft werden, und dann habe ich gar kein Vergnügen mehr. Mich selber zum Harlekin machen ist schließlich das einzige, was mir noch Spaß bereitet. Das verhaßte Individuum, das ich selber bin, verhöhnen ist mein Amüsement! Ich glaube, ich könnte ein Verbrechen begehen, nur um mich zu zerstreuen.«
    Der Moment, wo er sein Pferd in den Stall führte, war herrlich wie seit vier Wochen keiner. Korasoff hatte ihm ausdrücklich verboten, unter keinerlei Vorwand die treulose Geliebte anzuschauen. Aber die Tritte des Pferdes, das Mathilde sehr gut kannte, und die Art, wie Julian mit dem Reitstock an die Stalltüre klopfte, um einen der Reitdiener zu rufen, lockten sie bisweilen an die Fenstergardine. Der Musselin war so dünn, daß Julian sie sah. Unter dem Rande seines Hutes konnte er Mathildens Gestalt sehen, aber nicht den Kopf. »Folglich sieht sie meine Augen auch nicht«, sagte er sich. »Ich blicke sie also nicht an.«
    Am Abend benahm sich Frau von Fervaques ihm gegenüber genauso, als hätte sie die philosophisch-religiös-mystische Abhandlung gar nicht erhalten, die Julian am Morgen mit schwermütigster Miene an ihrem Hause abgegeben hatte. Am Abend vorher hatte ihn der Zufall das Mittel gelehrt, in Redseligkeit zu geraten. Es hieß: Mathildens Augen. Er setzte sich also so, daß er sie sehen konnte. Einen Augenblick nach dem Erscheinen der Marschallin verließ Fräulein von La Mole das blaue Sofa. Sie mied somit ihre gewohnte Gesellschaft. Croisenois war über diese neue Launenhaftigkeit sichtlich betroffen. Sein unverkennbarer Schmerz milderte die Bitternis in Julians Herzeleid.
    Das Unerwartete machte ihn beredt wie einen jungen Gott. Die Eitelkeit aber schleicht sich selbst in die Tempel der erhabensten Tugend. Als die Marschallin in ihren Wagen stieg, sagte sie sich: »Die Marquise hat recht. Der junge Priester hat etwas Vornehmes. Wahrscheinlich hat ihn meine Gegenwart anfangs schüchtern gemacht. Natürlich, denn was einem in diesem Hause begegnet, ist recht leichtfertig. Tugend gibt es hier nur im Gefolge des Altersgrauen. Offenbar hat der junge Mann den Unterschied gemerkt. Sein Stil ist gut. Nur fürchte ich, er ist über sein Gefühl im Irrtum, da er von mir Erleichterung erbittet. Aber schließlich, manche Bekehrung hat so angefangen! Seine Art und Weise zu schreiben spricht für ihn. Sie ist wesentlich anders als die der jungen Leute, die ich kennengelernt habe. In der Prosa dieses jungen Leviten liegt unverkennbar Weihe, tiefer Ernst und feste Überzeugung. Gewiß besitzt er die milde Tugend Massillons.«

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Siebenundzwanzigstes Kapitel
Die schönsten Kirchenplätze
Leistungen! Talente! Verdienste! Bah! Zu einer Clique muss man gehören.
    Fénelon, Télémaque
    S o wurde die Vorstellung von einem Bischof zum ersten Mal mit Julien in Zusammenhang gebracht; im Kopf einer Frau, die früher oder später einmal die schönsten Kirchenplätze in Frankreich vergeben konnte. Dieser Vorteil hätte Julien aber völlig kalt gelassen; im Augenblick konnten sich seine Gedanken zu nichts anderem aufschwingen als zu seinem gegenwärtigen Kummer. Alles nährte ihn. So war ihm beispielsweise der Anblick seines Zimmers unerträglich geworden. Am Abend, wenn er mit einer Kerze seine Kammer betrat, war ihm, als fange jedes einzelne Möbel, jeder kleine Zierat zu sprechen an und verkünde ihm höhnisch eine neue Verschlimmerung seiner unseligen Lage.
    Heute habe ich noch ein Stück Fronarbeit zu erledigen, sagte er sich, als er sein Zimmer betrat, mit einer seit langem ungewohnten Munterkeit. Hoffentlich ist der zweite Brief auch so

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