Rot und Schwarz
Angenehm berührte ihn die Entdeckung, daß sie ihrer Mutter nichts von alledem gesagt hatte.
Als Julian von seinem Ritte heimkam, ließ ihn Mathilde zu sich rufen. Nahezu in Gegenwart ihrer Kammerjungfer fiel sie ihm um den Hals. Er war über diesen Freudensausbruch gar nicht sehr erbaut. Die lange Unterredung mit dem Abbé Pirard hatte ihn zum Diplomaten gemacht. Die kühle Berechnung der Möglichkeiten hatte seine Phantasie ertötet.
Tränen in den Augen, berichtete ihm Mathilde, daß sie seinen Selbstmordbrief gelesen hatte.
»Mein Vater könnte sich wieder anders besinnen«, sagte sie zu ihm. »Tu mir den Gefallen und reite sofort nach Villequier! Verlaß das Haus! Sei im Sattel, ehe man vom Tisch aufsteht!«
Als Julian seine starre kalte Miene nicht verlor, brach Mathilde in Tränen aus.
»Laß mich unsre Sache in die Hand nehmen!« rief sie leidenschaftlich und umarmte ihn. »Du weißt, daß ich mich nur im äußersten Notfalle von dir trenne. Schreibe mir unter dem Namen meiner Kammerjungfer, die Anschrift von fremder Hand! Ich werde dir Bände antworten. Lebe wohl! Fliehe!«
Dieses letzte Wort verletzte Julian, aber er fügte sich. »Mein Verhängnis!« sagte er bei sich. »Dieser Menschenschlag bringt es selbst in seinen guten Stunden zuwege, mich zu kränken.«
Mathilde blieb allen verständigen Vorschlägen ihres Vater gegenüber fest. Sie war entschlossen, sich mit keinem Abkommen zufrieden zu geben, das nicht darauf fußte, daß sie als Frau Sorel zusammen mit ihrem Manne leben könne, und zwar entweder als arme Leute in der Schweiz oder bei ihrem Vater in Paris. Den Vorschlag einer heimlichen Entbindung wies sie weit von sich. »Das wäre der Anfang von Schimpf und Schande!« rief sie aus. »Acht Wochen nach unserer Hochzeit gehe ich mit meinem Manne auf Reisen. Es wird uns nicht schwerfallen, den Leuten beizubringen, mein Kind sei zur richtigen Zeit geboren.«
Der Marquis nahm die feste Art seiner Tochter zuerst mit Zornesausbrüchen auf. Schließlich aber stimmte sie ihn nachdenklich. In einem weichen Augenblick sagte er zu ihr: »Hier ist eine Verschreibung auf jährlich zehntausend Franken Rente. Schicke sie deinem Julian! Er soll das Seine tun, damit ich sie nicht wieder in die Hand bekomme!«
Aus Gehorsam gegen Mathilde, deren herrischen Sinn er allzu gut kannte, hatte Julian den Distanzritt nach Villequier umsonst gemacht. Er entledigte sich daselbst seiner Geschäfte mit den Pächtern und ritt auf die Nachricht von der Schenkung des Marquis nach Paris zurück. Beim Pfarrer Pirard blieb er eine Nacht. Der war inzwischen Mathildens bester Verbündeter geworden. Als ihn der Marquis um seinen Rat fragte, legte er ihm ausführlich dar, daß jedweder andre Ausweg als die regelrechte Heirat vor Gott eine Sünde sei.
»Zum Glück«, fügte er hinzu, »stimmen hier Weltlichkeit und Religion überein. Bei dem heftigen Temperament des gnädigen Fräuleins könnte man nicht lange auf Wahrung des Geheimnisses rechnen, denn sie selber hält es nicht dafür. Wird der mutige Schritt nicht getan, so wird sich die Gesellschaft mit dieser seltsamen Mesalliance viel länger beschäftigen. Es ist das beste, alles mit einem Schlage bekanntzumachen, ohne jedwede Geheimniskrämerei.«
»Allerdings«, gab der Marquis nachdenklich zu. »Auf diese Weise wird es bereits nach drei Tagen für geschmacklos gelten, der Heirat noch Erwähnung zu tun. Gelegentlich irgendwelcher antijakobinischer Maßregel der Regierung wird die Sache unauffällig mit durchschlüpfen.«
Zwei oder drei Freunde des Marquis waren der nämlichen Meinung wie der Abbé Pirard. Man war allgemein der Ansicht, daß der entschiedene Charakter des Fräuleins von La Mole eine andre Lösung der Frage unmöglich mache. Trotz alledem fiel es dem Marquis unendlich schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, seine Tochter auf die Krone einer Herzogin verzichten zu sehen.
Seine Erinnerung und seine Phantasie ließen ihn an allerhand ränkevolle und gewalttätige Auswege denken, wie sie noch in seiner Jugendzeit möglich waren. Sich dem Zwange zu fügen und die Gesetze zu respektieren, erschien ihm lächerlich, gleichsam gegen seinen Rang und seine Ehre. Die goldnen Zukunftsträume, die er seit zehn Jahren für seine Lieblingstochter geschmiedet hatte, mußte er jetzt teuer bezahlen.
»Wer hätte das erwartet!« sagte er sich. »Von einem so hochmütigen, so klugen und gescheiten jungen Mädchen, das stolzer ist als ich auf den Namen, den wir tragen!
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