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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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In Vergy verfolgten ihn keine bitteren Erinnerungen. Zum erstenmal in seinem Leben sah er keinen Feind. Wenn Herr von Rênal in der Stadt weilte, was öfters der Fall war, wagte er zu lesen. Bisher hatte er dies nur nachts getan, wobei er sein Licht vorsichtig in einem großen verkehrt hingestellten Blumentopf verbarg. Jetzt konnte er sich nachts dem Schlummer hingeben. Am Tage, in seinen freien Stunden, ging er mit seinem Lieblingsbuche hinauf in die Felsen. Er vertiefte sich in das Vorbild seiner Lebensführung und schöpfte neue Begeisterung. Nach Stunden der Mutlosigkeit fand er hier Trost im erhabensten Traumglück.
    Gewisse Aussprüche des großen Napoleon über die Frauen sowie über die Moderomane seiner Zeit brachten Julian zum erstenmal auf verliebte Gedanken, wie sie sich in jungen Männern zumeist viel früher regen.
    Die heißen Tage kamen. Man verbrachte die Abende gewöhnlich unter einer mächtigen Linde dicht vor dem Herrenhause. Dort war es stockdunkel. Eines Abends redete Julian besonders lebhaft. Es war ihm Lust, so reden zu können: vor den jungen Frauen. Er gestikulierte, und einmal berührte er dabei Frau von Rênals Hand, die auf der Lehne eines der weißlackierten Gartenstühle ruhte.
    Die Hand fuhr blitzschnell zurück; da durchfuhr Julian der Gedanke, es wäre seine Pflicht 16 , daß sich diese Hand nicht zurückzöge, wenn er sie berührte. Der Gedanke, er habe eine Pflicht zu erfüllen, dazu das Gefühl, es sei lächerlich, mehr noch, eines höheren Menschen unwürdig, erfolglos zu verzichten – das ertötete im Moment alle Freuden seines Herzens.

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Neuntes Kapitel
Ein Abend auf dem Lande
Die Dido des Herrn Guérin, eine entzückende Skizze.
    Strombeck
    A ls Julian am nächsten Morgen Frau von Rênal wiedersah, schaute er sie seltsamen Blickes an. Er beobachtete sie wie einen Feind, mit dem man sich schlagen soll. Diese Blicke, die so ganz anders waren als die am vergangenen Abend, brachten Frau von Rênal beinah um den Verstand. Sie war gütig mit ihm gewesen, und er sah so bös aus! Sie mußte ihn immer von neuem anschauen.
    Frau Dervilles Anwesenheit ermöglichte es ihm, wenig zu reden und sich desto mehr mit dem zu beschäftigen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Diesen ganzen Tag über las er und sog neue Kraft aus dem enthusiastischen Buche. Es erfüllte seine Seele.
    Die Unterrichtsstunden der Kinder kürzte er beträchtlich ab, und als er dann wieder mit Frau von Rênal zusammentraf, gemahnte ihn diese Begegnung sofort daran, daß er Sieger sein müsse. Er faßte den Vorsatz, es am Abend so weit zu bringen, daß er ihre Hand in der seinen halten dürfe.
    Als die Sonne sank und der entscheidende Augenblick heranrückte, begann Julians Herz seltsam zu schlagen. Die Nacht brach an, eine dunkle Nacht, wie er zu seiner Freude und unsäglichen Erleichterung wahrnahm. Ein schwüler schwerer Wind ging und trieb dunkle Wolken über den Himmel. Es lag ein Gewitter in der Luft.
    Die beiden Freundinnen lustwandelten. Es war schon spät. Alles, was sie an diesem Abend taten, dünkte Julian sonderbar. Sie genossen diese Stunden, in denen zarten Seelen die Wollust der Liebe wächst.
    Endlich nahm man Platz, Frau von Rênal neben Julian, Frau Derville ihr dicht zur andern Seite. Julian brachte kein Wort über die Lippen. Sein Vorhaben nahm in völlig in Anspruch. Die Unterhaltung zu dritt schlich matt dahin.
    »Ob ich wohl ebenso zitterte, ob ich ebenso unglücklich wäre, wenn ich vor meinem ersten Duell stände?« So fragte sich Julian. Allzu mißtrauisch gegen sich wie gegen andre, war er sich über seinen Seelenzustand nicht klar.
    In seiner Todesangst hätte er jedwede Gefahr vorgezogen. Hundertmal empfand er den heißen Wunsch, daß irgendeine häusliche Pflicht Frau von Rênal veranlasse, aus dem Garten in das Haus zu gehen. Die Gewalt, die sich Julian antat, war so groß, daß seine Stimme tief verändert klang. Bald begann auch Frau von Rênals Stimme zu zittern. Aber das merkte Julian nicht. Der furchtbare Kampf zwischen Pflicht und Schüchternheit tobte derart in ihm, daß er für die Außenwelt gar keinen Sinn hatte.
    Die Schloßuhr schlug dreiviertel zehn. Noch hatte Julian nicht das geringste gewagt. Empört über seine Feigheit gelobte er sich: »Im Augenblick, wo es zehn Uhr schlägt, führe ich das aus, was ich mir den ganzen Tag über befohlen habe zu tun – oder ich gehe in mein Zimmer und schieße mich tot.«
    Die letzte Viertelstunde war voller Hangen und Bangen.

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