Rot und Schwarz
Julians Erregung wuchs so mächtig, daß er fast von Sinnen war, als die Turmuhr hoch über ihnen die zehnte Stunde verkündete. Jeder einzelne Schlag dieser Schicksalsvollzieherin erschütterte sein Herz. Es war ihm, als ob ihn der Glockenschlägel körperlich berührte.
Als der letzte Schlag verhallte, erst da streckte Julian seine Hand aus und ergriff Frau von Rênals Hand. Sie zuckte zurück. Ohne zu wissen, was er tat, erfaßte er sie abermals. Trotz seiner gewaltigen Erregung staunte er über die eisige Kälte der Hand, die er umspannte und krampfhaft drückte. Es erfolgte ein letzter Versuch, sie ihm zu entziehen: dann verblieb ihm die Hand.
Seine Seele jubelte vor Glück, nicht weil er Frau von Rênal liebte, nein, weil die gräßliche Qual überstanden war. Um Frau Derville nichts merken zu lassen, glaubte er reden zu müssen. Seine Stimme klang nun wieder hell und kräftig, während Frau von Rênal kaum zu sprechen vermochte. Ihre Erregung war so unverkennbar, daß Frau Derville glaubte, ihre Freundin sei krank, und den Vorschlag machte, doch lieber ins Haus zu gehen.
Sofort fühlte Julian die Gefahr. »Wenn Frau von Rênal jetzt ins Haus geht« – das war sein Gedanke –, »dann verfalle ich abermals in den qualvollen Zustand, der mich den ganzen Tag gepeinigt hat. Ihre Hand hat noch nicht lange genug in der meinen geruht. Ich habe noch keinen rechten Sieg errungen.«
Als Frau Derville ihren Vorschlag, hineinzugehen, wiederholte, drückte Julian ungestüm seiner Herrin Hand, die ihm widerstandslos zu eigen blieb.
Frau von Rênal war eben im Begriffe gewesen, sich zu erheben. Jetzt sank sie zurück und flüsterte kaum hörbar: »Ich fühle mich wirklich ein wenig krank, aber die frische Luft tut mir wohl.«
Diese Worte besiegelten Julians Glück. In diesem Augenblick war es unermeßlich. Er redete. Er vergaß zu heucheln. Und so erschien er den beiden Freundinnen, die ihm zuhörten, als ein Meister der Liebenswürdigkeit. Gleichwohl ermangelte es dieser Beredsamkeit, die ihn so plötzlich überkommen, ein wenig an Zuversicht. Er hatte ungeheuerliche Angst, Frau Derville könne wegen dem stärker gewordenen Winde, dem Vorboten des Gewitters, allein in den Salon gehen. Dann wäre er mit Frau von Rênal unter vier Augen geblieben. Den blinden Mut, der zu einer Tat gehört, den hatte er nur zufällig gefunden. Er hatte das Gefühl, daß es über seine Kraft gehen würde, auch nur ein paar leise Worte zu Frau von Rênal zu sagen. Wenn er sich im allgemeinen auch kaum etwas vorzuwerfen hatte, so sah er doch, daß er eine Niederlage erleiden und des eben Gewonnenen wieder verlustig gehen würde.
Zu seinem Glücke fand seine empfindsame und überschwengliche Plauderei an diesem Abend Gnade vor Frau Derville, die sich sonst häufig ob seiner Naivität und Unerfahrenheit recht langweilte. Frau von Rênal hingegen saß Hand in Hand mit Julian und dachte an nichts. Sie ließ alles geschehen. Dieser Abend unter der uralten Linde, die der Sage nach Karl der Kühne gepflanzt hatte, war ihr das reinste Glück. Wonnesam lauschte sie dem Winde, der durch das Blätterwerk des mächtigen Baumes rauschte, und dem Aufklatschen der Tropfen, die vereinzelt zu fallen begannen. Ein Umstand entging Julian, der ihm das Selbstbewußtsein gestärkt hätte. Frau von Rênal hatte ihm die Hand entziehen müssen. Sie war aufgestanden, um ihrer Base behilflich zu sein, einen vom Wind umgeworfenen Blumenkübel wieder aufzustellen. Kaum aber saß sie wieder, da legte sie ihre Hand von selber in die seine, als ob dies schon Gewohnheitssache unter ihnen wäre.
Es hatte längst Mitternacht geschlagen. Man mußte endlich den Garten verlassen, und die beiden trennten sich. Im Banne ihres Liebesglückes und in ihrer Unerfahrenheit dachte sie an keinen Selbstvorwurf. Vor Seligkeit vermochte sie nicht einzuschlummern. Julian hingegen fiel in einen bleischweren Schlaf, todmüde von den Kämpfen zwischen Zaghaftigkeit und Stolz, die den ganzen Tag über sein Herz erfüllt hatten.
Am andern Morgen weckte man ihn um fünf Uhr. Keiner seiner Gedanken galt Frau von Rênal. Welch grausame Erkenntnis wäre dies für sie gewesen!
Er hatte seine Pflicht erfüllt: eine Heldenpflicht.
In seinem Glücksgefühl schloß er sich in sein Zimmer ein und vertiefte sich mit gewandeltem Genuß in die Taten seines Herrn und Meisters.
Als es zum Frühstück läutete, hatte er über den Bulletins der Großen Armee alle seine eigenen Siege von gestern
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