Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
vergessen. Beim Hinuntergehen nach dem großen Zimmer im Erdgeschoß sagte er leichtfertig zu sich: »Ich muß der Frau sagen, daß ich sie liebe.«
    Aber statt der liebesseligen Blicke, die er erwartet, sah er sich vor der gestrengen Miene des Bürgermeisters, der vor zwei Stunden aus Verrières angekommen war und durchaus kein Hehl aus seiner Unzufriedenheit darüber machte, daß Julian den ganzen Vormittag vertrödelt hatte, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Der sonst so gravitätische Herr von Rênal war der unangenehmste Mensch, wenn er schlechte Laune hatte und Gelegenheit fand, sie an jemandem auszulassen.
    Jedes scharfe Wort ihres Mannes versetzte Frau von Rênal einen Stich ins Herz. Julian indes war in Ekstase. Die gewaltigen Begebnisse, die ihn in den beiden Stunden beschäftigt hatten, flammten noch vor seiner Phantasie. Es fiel ihm schwer, sich so weit herabzulassen, daß er die groben Vorwürfe des Herrn von Rênal aufnahm. Endlich gab er eine Antwort, schroff und jäh: »Mir war nicht wohl.«
    Der Ton dieser Ausrede hätte auch einen weit weniger empfindlichen Menschen als den Bürgermeister geärgert. Es fehlte nicht viel, so hätte er ihn daraufhin ohne weiteres von dannen gejagt. Lediglich sein Grundsatz, sich in Geschäftssachen niemals zu übereilen, hielt ihn davon zurück. Im nächsten Augenblick sagte er sich bereits: »Dieser dumme Junge hat sich in meinem Hause ein gewisses Renommee begründet. Valenod nähme ihn gewiß. Oder er heiratet die Elise. In beiden Fällen lacht er mich insgeheim aus.«
    Trotz dieser klugen Überlegung entlud sich seine Unzufriedenheit in einer Flut von Grobheiten über Julian, die diesen allmählich in Zorn brachten. Frau von Rênal war dem Weinen nahe. Kaum war das Frühstück zu Ende, da bat sie Julian, an ihrem Spaziergang teilzunehmen.
    Unterwegs nahm sie freundschaftlich seinen Arm und plauderte zu ihm. Julian erwiderte nichts als einmal halblaut die Worte: »Ja, so sind sie, die reichen Leute!«
    Dicht neben den beiden ging Herr von Rênal. Seine Gegenwart vermehrte Julians Ingrimm. Und mit einem Male ward er sich bewußt, daß sich Frau von Rênal mehr denn nötig auf ihn stützte. Diese Annäherung widerte ihn an. Er stieß sie brüsk von sich und machte seinen Arm frei.
    Glücklicherweise entging Herrn von Rênal diese neue Unverschämtheit. Nur Frau Derville bemerkte den kleinen Vorfall. Ihrer Freundin kamen die Tränen in die Augen. In diesem Augenblick nahm der Bürgermeister ein paar Steine auf und verjagte damit ein Bauernmädchen, das auf einem verbotenen Weg dahinging, quer über einen Zipfel des Obstgartens. Rasch sagte Frau Derville: »Herr Julian, mäßigen Sie sich, bitte! Bedenken Sie, daß wir alle unsre Launen haben!«
    Julian warf ihr einen eiskalten Blick zu. In seinen Augen gleißte die souveränste Verachtung.
    Frau Derville stutzte. Sie wäre tief erschrocken, wenn sie die volle Bedeutung seines Blickes erfaßt, wenn sie die vage Hoffnung auf gräßliche Vergeltung daraus gelesen hätte. Solche Momente der Demütigung erzeugen die großen Revolutionäre.
    »Euer Julian ist recht rabiat«, flüsterte Frau Derville ihrer Freundin zu. »Mir graut vor ihm.«
    »Er hat auch Anlaß, aufgebracht zu sein«, gab Frau von Rênal zur Antwort. »Bei den erstaunlichen Fortschritten, die ihm die Kinder verdanken, kann er schon einmal einen Vormittag sich selber widmen. Die Männer sind wirklich rücksichtslos.«
    Zum erstenmal in ihrem Leben empfand Frau von Rênal Rachsucht gegen ihren Mann. Julians wilder Haß gegen die Reichen war nahe daran auszubrechen. Zum Glück sah Herr von Rênal just den Gärtner, rief ihn her und machte sich zusammen mit ihm daran, den verbotenen Weg durch eine Dornenhecke zu sperren.
    Julian erwiderte kein einziges Wort auf alle die Freundlichkeiten, die ihm die beiden Damen auf dem weiteren Spaziergang angedeihen ließen. Der Bürgermeister war kaum aus der Sehweite, als ihn beide, unter dem Verwände, müde zu sein, um seinen Arm baten.
    So schritt Julian zwischen den beiden Frauen hin, die beide vor Erregung und Verlegenheit glühende Wangen bekommen hatten, während er totenblaß aussah, düster und verbissen. Ein eigentümlicher Gegensatz! Er verachtete diese Weiber und alle ihre Empfindsamkeit.
    »Ach!« stöhnte er im stillen. »Wenn ich nur lumpige fünfhundert Franken Zinsen im Jahre hätte und mein Studium vollenden könnte! Dann pfiffe ich auf diesen Rênal!«
    In so bitteren Gedanken verloren, dünkte Julian

Weitere Kostenlose Bücher