Rot und Schwarz
Rênal.
»Herr Bürgermeister, ich möchte in einer Gewissenssache zum Herrn Pfarrer«, sagte er, »und ich bitte gehorsamst, mich gütigst auf einige Stunden beurlauben zu wollen.«
»Aber gern, mein lieber Julian«, entgegnete Herr von Rênal mit heuchlerischer Leutseligkeit. »Den ganzen Tag, wenn Sie wollen, auch morgen noch, Verehrtester! Nehmen Sie den Gärtnergaul und reiten Sie nach Verrières!«
»Aha!« dachte er bei sich. »Jetzt will er ins Städtchen, Valenod Bescheid geben. Verpflichtet hat er sich mir nicht. Aber so einem Heißsporn muß man Zeit lassen, wieder vernünftig zu werden.«
Julian machte sich unverzüglich auf den Weg nach Verrières, und zwar zu Fuß, auf dem Höhenpfad durch den Wald. Er hatte es durchaus nicht eilig, zu Chélan zu kommen. Vor dem guten Pfarrer die Komödie der Heuchelei weiterzuspielen, dazu spürte er die geringste Lust. Vielmehr hatte er das Bedürfnis, mit sich selbst ins klare zu kommen und das Chaos in seiner Seele zu belauschen.
»Ich habe eine Schlacht gewonnen!« 17 frohlockte er, als er in der Einsamkeit des Hochwaldes dahinschritt, fern den Blicken der Menschen. »Ich habe eine Schlacht gewonnen!«
Dieser Siegesruf durchsonnte ihm all sein Lebensleid. Etwas wie Frieden zog in seine Brust ein.
»Jetzt habe ich also fünfzig Franken Monatsgehalt. Mich dünkt, Herr von Rênal hat eine Heidenangst vor mir. Warum denn eigentlich?«
Der Gedanke, einem so glücklichen und mächtigen Manne, auf den er vor kaum einer Stunde wütend gewesen, doch Furcht eingejagt zu haben, stimmte ihn vollends heiter. Einen Augenblick lang ergriff ihn sogar die wunderbare Schönheit des Waldes, durch den er wanderte. Hohe nackte Felsenblöcke, vor Urzeiten vom Kamme der Berge hierher gerollt, reckten sich unter den riesigen Rotbuchen, fast gleich hoch wie diese. Aus dem Gestein drang köstliche Kühle, während ein paar Schritte weiter die unerträglichste Sonnenglut brannte.
Im Schatten der hohen Felsen rastete Julian eine Weile. Dann stieg er weiter, einen schmalen, kaum erkennbaren Saumpfad empor, den nur die Ziegenhirten benutzten. So gelangte er auf einen Vorsprung.
Kein Mensch weit und breit. Ungestört stand Julian da droben. Lachend. So frei wie hier körperlich, auch geistig und seelisch zu sein, das war seine heißeste Sehnsucht! Die lichte leichte Höhenluft erfüllte ihn mit heiterem Frieden, ja mit Glückseligkeit.
Von neuem erinnerte er sich des Bürgermeisters von Verrières als des Vertreters aller Reichen und aller derer, die sich etwas anmaßten auf Erden. Aber zugleich fühlte Julian, daß sein Haß, so mächtig er ihn durchloderte, nichts mit der Person eines Einzelnen zu tun hatte. Wenn er nie wieder in das Haus des Herrn von Rênal hätte zurückkehren müssen, so hätte er ihn in acht Tagen vergessen, ihn samt seinem Schlosse, seinen Hunden, seinen Kindern und seiner ganzen Familie.
»Ich habe ihn, ich weiß selber nicht warum, zu einem Opfer gezwungen«, sagte er sich. »Sechsundfünfzig Taler mehr im Jahre... und dies ein paar Minuten, nachdem ich der größten Gefahr entronnen! Also zwei Siege an einem Tage! Der zweite ist allerdings nicht mein Verdienst. Ich muß doch noch erspüren, wie das zugegangen ist. Morgen werde ich das erkunden!«
Hochaufgerichtet stand Julian auf seinem Felsen und schaute in den Himmel, den die Augustsonne durchflammte. Zu Füßen der Felswand zirpten die Grillen. Wenn sie zeitweise verstummten, war Totenstille ringsumher. In der Tiefe dehnte sich das Land zwölf Meilen in die Ferne. Ein Weih flog aus den Felsenhängen zu seinen Häupten auf und zog seine weiten Kreise in der endlosen Stille. Julians Blick folgte dem Raubvogel unwillkürlich. Der ruhige erhabene Flug ergriff ihn. Er beneidete das Tier um seine Kraft. Er beneidete es um seine Einsamkeit.
»Napoleons Schicksal war so!« dachte er bei sich. »Wird dereinst auch das meine so sein?«
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Elftes Kapitel
Ein Abend
Yet Julia's very coldness still was kind.
And tremulously gentle her small hand
Withdrew itself from his, but left behind,
A little pressure, thrilling, and so bland
And slight, so very slight that to the mind,
'Twas but a doubt.
Byron, Don Juan, I, 71
J ulian mußte sich unbedingt in Verrières zeigen. Als er aus dem Pfarrhause kam, fügte es ein glücklicher Zufall, daß er Herrn Valenod begegnete. Unverzüglich berichtete er ihm die Gehaltserhöhung.
Wieder in Vergy, begab er sich erst nach Anbruch der Dunkelheit hinunter in den Garten. Seine
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