Rot und Schwarz
leidenschaftlichen Küsse, wie sie noch nie welche empfangen, ließen sie jäh vergessen, daß er vielleicht eine andre liebe. Er kam ihr schon nicht mehr schuldig vor. Der bittre Schmerz, mit dem ihr Argwohn sie gequält hatte, gab einer Glückseligkeit Raum, die sie nicht einmal aus Träumereien kannte. Liebesrausch umfing sie und tolle Ausgelassenheit.
Jedermann fand den Abend wundervoll, nur der Bürgermeister nicht, der sich die reichgewordenen Fabrikanten nicht aus dem Sinn zu schlagen vermochte. Julian hatte seinen düsteren Ehrgeiz vergessen und seine himmelstürmenden Pläne. Zum erstenmal in seinem Leben erlag er der Allmacht der Schönheit. Verloren in weicher wonniglicher Träumerei, wie sie sonst seinem Wesen fremd war, dünkte ihn die Frauenhand, die er sanft umfaßt hielt, das allerhöchste. Und wie im Halbschlummer hörte er das Rauschen der Lindenblätter im leisen Nachtwind und das ferne Hundegebell in der Mühle am Doubs.
Aber alles das war für ihn ein Erlebnis der Sinne, nicht der Seele. Als er dann sein Zimmer betrat, empfand er die höchste Lust darin, sein Lieblingsbuch vorzunehmen. In der Phantasie eines Zwanzigjährigen vertreibt die Illusion von der Welt und der in ihr möglichen Erfolge alles andre.
Gleichwohl legte Julian das Buch bald wieder aus der Hand. Napoleons Siege hatten ihn darauf gebracht, seinen eigenen Sieg von einem neuen Standpunkte aus zu betrachten.
»Gewiß!« rief er aus. »Ich habe eine Schlacht gewonnen, aber ich muß sie auch ausnutzen. Ich muß diesem hochmütigen Junker den Stolz brechen, solange er sich noch auf dem Rückzuge befindet. Das ist erst wahrhaft napoleonisch! Ich werde Herrn Rênal um drei Tage Urlaub angehen und meinen alten Freund Fouqué einmal besuchen. Schlägt er mir den Urlaub ab, dann sag ich ihm Valet. Aber er gibt nach.«
Frau von Rênal vermochte kein Auge zu schließen. Ihr war zumute, als hätte sie bis zu diesem Tage überhaupt nicht gelebt. Ihre Einbildungskraft beschäftigte sich fortwährend mit der seligen Erinnerung an die heißen Küsse, die ihr Julian auf die Hand gedrückt hatte.
Plötzlich kam ihr das Schreckenswort Ehebruch in den Sinn. Und die allerabscheulichsten Dinge, mit denen man die Sinnenliebe schändet, tauchten vor ihr auf.
Die Schatten dieser Gedanken verdunkelten das lichte himmlische Traumbild, das sie sich von Julian und dem Glück, ihn zu lieben, gemacht hatte. Sie schaute in eine grausige Zukunft, und sie sah sich selbst in der tiefsten Schmach.
Der Zustand war furchtbar. Ihre Seele geriet in ein unbekanntes Land. Am vergangenen Abend hatte sie eine noch nie verspürte Seligkeit gekostet, und jetzt war sie mit einemmal der gräßlichsten Herzensnot verfallen. Solche Qualen hätte sie für unmöglich gehalten. Sie verlor die Vernunft. Einen Augenblick hegte sie den Plan, ihrem Manne zu gestehen, daß sie fürchte, Julian zu lieben. Aber da hätte sie von ihm reden müssen. Zu ihrem Glück fiel ihr eine gute Lehre ein, die ihr die Tante am Tage vor der Hochzeit gegeben hatte: »Sei vorsichtig mit Geständnissen vor deinem Gatten! Alles in allem ist der Ehemann immer ein Tyrann.«
Im Wirrwarr ihres Leids rang sie die Hände. Sie ward zum Spielball der schmerzlichsten, konträrsten Wahngebilde. Bald fürchtete sie, nicht geliebt zu werden; bald wieder peinigte sie der Gedanke an Schuld und Schande. Es war ihr, als solle sie morgen auf dem Marktplatz von Verrières am Pranger stehen, ihr zu Häupten eine Tafel, die ihren Ehebruch aller Welt verkündete.
Frau von Rênal hatte nicht die geringste Lebenserfahrung, und so hätte sie selbst in normalem Zustand und im vollen Besitz ihres klaren Verstandes den Unterschied nicht herausgefunden zwischen einer nur vor dem höchsten Richter schuldigen Sünderin aus Leidenschaft und einer der allgemeinen Verachtung würdigen Dirne.
Zeitweise ließ der schreckliche Gedanke an den Ehebruch und die Verdammnis, die diesem Vergehen ihrem Glauben nach folgte, von ihr ab. Dann dachte sie daran, wie süß es sein müsse, mit Julian schuldlos weiterzuleben. Aber zugleich packte sie der qualvolle Verdacht, daß Julian eine andre liebe. Vor ihrem geistigen Auge stand er wieder da wie in jenem Augenblick, da er fürchtete, das Bild der Geliebten zu verlieren oder sie bloßzustellen, indem es in fremde Hände kam. Nie vordem hatte sie auf Julians edlem, immer ruhigem Gesicht Furcht und Angst entdeckt. Nie war er vor ihr oder ihren Kindern so erregt erschienen. In diesem Übermaß
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