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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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von Schmerz empfand sie allen Jammer, den es für ein Menschenherz nur geben kann. Ohne es zu wissen, stieß sie einen lauten Schrei aus, durch den ihre Kammerjungfer erwachte.
    Plötzlich gewahrte sie vor ihrem Bett hellen Kerzenschein. Elise stand vor ihr.
    In ihrem Irrsinn rief Frau von Rênal: »Liebt er dich denn?«
    Die Jungfer war erstaunt, ihre Herrin in so sonderbarer Erregung zu überraschen, aber glücklicherweise war ihr die seltsame Frage entgangen.
    Frau von Rênal ward sich ihrer Unbesonnenheit bewußt.
    »Ich habe Fieber, Elise«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe gar phantasiert. Bleibe bei mir!«
    Gezwungen, auf sich zu achten, wurde sie völlig wach. Jetzt fühlte sie sich auch nicht mehr so unglücklich. Die Vernunft, die sie im Halbschlafe verloren, kam wieder zur Herrschaft. Um Elisens lauernde Blicke abzulenken, befahl sie ihr, aus der Zeitung vorzulesen.
    Während die Jungfer mit eintöniger Stimme einen langen Aufsatz aus der
Quotidienne
herleierte, faßte Frau von Rênal den tugendsamen Entschluß, Julian mit eisiger Kälte zu behandeln, sobald sie ihn wiedersähe.

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Zwölftes Kapitel
Eine Reise
Man findet in Paris weltläufige Leute, aber in der Provinz gibt es vielleicht charaktervolle Menschen.
    Sieyès
    A m nächsten Morgen, bereits um fünf Uhr, noch ehe sich Frau von Rênal zeigte, hatte Julian von ihrem Manne einen dreitägigen Urlaub erhalten. Wider sein eignes Erwarten empfand er das Bedürfnis, sie noch zu sehen. Ihre hübsche Hand kam ihm in den Sinn. Er ging in den Garten hinunter. Frau von Rênal ließ lange auf sich warten; aber wenn Julian wirklich verliebt gewesen wäre, so hätte er erspäht, daß sie hinter der halbgeschlossenen Jalousie eines der Fenster im ersten Stock, die Stirn an die Scheibe gedrückt, nach ihm Ausschau hielt. Ungeachtet ihres Gelöbnisses entschloß sie sich schließlich, im Garten zu erscheinen. Ihre gewöhnliche Blässe war den lebhaftesten Farben gewichen. Die harmlose Frau war sichtlich erregt. Der Wille, sich zu beherrschen, und ein Anflug von Zorn hatten die Sonne ihres Madonnengesichts., die sonst hoch über den Alltagsdingen strahlte, verscheucht.
    Julian schritt hastig auf sie zu. Bewundernd sah er ihre schönen Arme, die durch den eilig übergeworfenen dünnen Schal schimmerten. Ihre Haut, nach der aufgeregten Nacht gegen Licht und Luft empfindlicher denn je, leuchtete im frischen Morgen. Die schlichte Schönheit, die so viel inneres Leben verriet, ergriff Julian. Solche Frauen gab es im unteren Volke nicht. Er fühlte, daß eine Saite in seinem Herzen vibrierte, an die bis dahin nie etwas gerührt hatte. Versunken in den Anblick der Reize, an denen sich seine Augen gierig weideten, dachte er gar nicht daran, daß er einen freundlichen Empfang erwartet hatte. Dann aber war er über die eisige Kälte, die ihm unverkennbar zuteil ward, um so mehr betroffen, witterte er doch dahinter die Absicht, ihn in sein Plebejertum zurückzudrängen.
    Das Lächeln der Lust erstarb auf seinen Lippen. Er erinnerte sich des Ranges, den er in der menschlichen Gesellschaft einnahm, insbesondere in den Augen dieser vornehmen und reichen Dame. Im Moment lebte in seinen Mienen nichts mehr denn Hochmut und Groll gegen sich selbst. Er empfand heftigen Verdruß, daß er seinen Aufbruch um mehr als eine Stunde hinausgeschoben hatte, um dafür einen so demütigenden Empfang zu ernten.
    »Nur ein Tor ärgert sich über die Welt!« tröstete er sich. »Ein Stein fällt, dieweil er schwer ist! Soll ich ewig ein Kind bleiben? Wann werde ich endlich die treffliche Gewohnheit annehmen, diesen Leuten von meiner Seele nur gegen ihr Geld zu geben? Wenn ich will, daß sie – und damit auch ich – Respekt vor mir haben, dann muß ich ihnen begreiflich machen, daß ich armer Kerl zwar der Sklave ihres Mammons bin, daß ich mit meinem Herzen aber himmelhoch über ihrer frechen Selbstgefälligkeit throne, unsagbar erhaben über die armseligen Zeichen ihrer Gnade oder ihrer Geringschätzung.«
    Während diese Gefühle in der Seele des jungen Lehrers wogten und wühlten, gewann sein zuckendes Gesicht die Mienen gekränkten Stolzes und wilder Empörung. Frau von Rênal erschrak zu Tode darüber. Die tugendhafte Kälte, die sie sich für die Wiederbegegnung vorgenommen hatte, wich dem Ausdruck der Teilnahme, eines Mitgefühls, das die Verwunderung über den sichtlichen Umschwung in Julian noch vertiefte. Die leeren Redensarten, die man sich am Morgen über das Befinden und das

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