Rot und Schwarz
Bürgermeisters kommen sollte.
Jetzt verstand Julian auch die Anspielungen, die an sein Ohr gedrungen waren, wenn die Spitzen der Gesellschaft im Rênalschen Hause zum Diner erschienen. Diese gleichsam Privilegierten trafen weitgehende Wahlvorbereitungen, ohne daß die Allgemeinheit und besonders die Liberalen eine Ahnung davon hatten. Das Wichtigste bei der Sache war, wie stadtbekannt, die bevorstehende Verbreiterung der Hauptstraße von Verrières an der Ostseite um zwei Meter. Die Straße war nämlich Staatsstraße geworden.
Wenn nun Moirod, der drei Grundstücke besaß, die bei der Enteignung in Frage kamen, Vizebürgermeister wurde und demnächst – falls Herr von Rênal Landtagsabgeordneter wurde – Bürgermeister, so brauchte er nur ein Auge zuzudrücken. Dann waren an den Häusern, die der Straßenverbreiterung im Wege lagen, wohl ein paar unbedeutende Regulierungen vorzunehmen, sie konnten aber schließlich noch hundert Jahre stehenbleiben. Trotz Moirods großer Frömmigkeit und anerkannter Redlichkeit war man sicher, daß er kein Unmensch sein werde. Er war ja Familienvater. Von den übrigen Häusern, die zurückgerückt werden mußten, gehörten neun den ersten Familien in Verrières.
Diese Kleinwelt samt ihren Machenschaften erschien Julian mit einem Male weit wichtiger als der Bericht von der Schlacht bei Fontenoy 18 , den er kürzlich als etwas ganz Neues in einem der Fouquéschen Bücher gelesen hatte. In den letzten fünf Jahren, seit er angefangen hatte, abends zum Pfarrer zu gehen, war er in einem fort auf Dinge gestoßen, die ihm Kopfzerbrechen verursachten. Aber da Stumpfsinn und Geistesarmut zu den Kardinaltugenden eines Theologie Studierenden gehören, so hatte er keinerlei Fragen stellen dürfen.
Die Zeit ging im Fluge dahin. Im Banne der Reize seiner Geliebtes kam Julian von seinem finsteren Ehrgeiz ab. Der Zwang, in seinen Gesprächen mit ihr traurige und rein nützliche Dinge zu umgehen (weil die beiden nicht auf dem gleichen sozialen Boden standen), erhöhte, ohne daß er sich dessen bewußt ward, das Glück, das er Frau von Rênal verdankte, und zugleich die Macht, die sie über ihn gewann.
In den Stunden, da es die Gegenwart der aufgeweckten Kinder erheischte, sich in der Sprache kühler Vernunft zu unterhalten, lauschte Julian aufmerksam ihren Bemerkungen über die Gesellschaft und deren Räderwerk, wobei er sie mit funkelnden Augen ansah. Mitunter geriet Frau von Rênal inmitten ihrer Erzählung von einer durchtriebenen Betrügerei, die bei Gelegenheit eines Wegebaus oder einer Verdingung geschehen war, vermöge ihrer Lebhaftigkeit in die reinste Ekstase. Dann fand es Julian für angebracht, sie auszuschelten, daß sie ihn genauso zärtlich wie ihre drei Jungen behandle. In der Tat hatte sie häufig wirklich das Gefühl, er sei ihr Kind. Mußte sie ihm doch fortwährend seine naiven Fragen über tausend einfache Dinge beantworten, die jeder Fünfzehnjährige aus guter Kinderstube längst weiß. Einen Augenblick später freilich bewunderte sie ihn wieder als ihren Herrn und Meister. Manchmal erschrak sie vor seinem Genie. Von Tag zu Tag glaubte sie in dem jungen Abbé den künftigen großen Mann deutlicher zu erkennen. Sie sah ihn als Papst, als Premierminister, als zweiten Richelieu. Einmal fragte sie Julian: »Ob ich deinen Ruhm und Glanz wohl erlebe? Platz für einen großen Mann ist da. Monarchie wie Kirche haben einen nötig.«
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Achtzehntes Kapitel
Ein König in Verrières
Seid ihr nur dazu gut, dass man euch wegwirft wie den Leichnam eines seelenlosen Volkes, in dessen Adern kein Blut mehr fließt?
Aus der Rede des Bischofs
in der Kapelle des hl. Clemens
A m 3. September abends zehn Uhr setzte ein Gendarm, der die Hauptstraße hinaufgaloppierte, die ganze Stadt in Aufruhr. Er brachte die Kunde, daß Seine Majestät der König 19 am nächsten Sonntag nach Verrières käme. Es war bereits Dienstag. Der Regierungspräsident gestattete – das hieß soviel wie: er befahl – die Aufstellung einer Ehrenwache. Der Empfang sollte so feierlich wie nur möglich werden.
Alsbald ward ein reitender Bote nach Vergy geschickt. Herr von Rênal traf noch während der Nacht in der Stadt ein. Die ganze Bürgerschaft war auf den Beinen. Jedermann hatte sein besonderes Anliegen. Wer nicht unmittelbar beteiligt war, mietete sich einen Balkon, um den Einzug des Königs zu sehen.
»Wer wird die Ehrenwache führen?« fragte man sich. Der Bürgermeister war sich sofort klar, daß es im
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