Rot und Schwarz
die Wege zu leiten. Karl X. wollte Verriéres nicht passieren, ohne der berühmten Reliquie des heiligen Clemens seinen Besuch abzustatten, die in Hohen-Bray aufbewahrt ward, einem kleinen Orte, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Ein zahlreicher Klerus sollte zugegen sein. Dies war aber keine einfache Sache. Maslon, der neue Pfarrer, wollte nichts davon wissen, daß man den alten Pfarrer Chélan heranzog. Vergeblich stellte ihm der Bürgermeister vor, dies sei unumgänglich. Der Marquis von La Mole, dessen Vorfahren so lange Zeit in dieser Gegend der Freigrafschaft geherrscht hatten, sei als Begleiter des Monarchen befohlen. Er kenne den Abbé Chélan seit dreißig Jahren. Es sei vorauszusehen, daß er bei seiner Anwesenheit in Verrières nach ihm frage, und wenn er von seiner Absetzung erführe, wäre er just der Mann, ihn in dem Häuschen, in das er sich zurückgezogen hatte, aufzusuchen. Er und das ganze Gefolge, über das er verfügte. Das wäre eine Riesenblamage!
»Wenn Chélan unter meinem Klerus erscheint«, jammerte der Abbé Maslon, »dann ist es um mein Ansehen hier und in Besançon geschehen! Ein Jansenist! Großer Gott!«
»Das ist alles schön und gut«, erwiderte ihm Herr von Rênal, »aber ich habe keine Lust, die Behörde der Stadt Verrières der Gefahr auszusetzen, eine scharfe Bemerkung des Herrn Marquis einstecken zu müssen. Sie kennen ihn nicht. Bei Hofe vermickst er sich nicht, aber hier in der Provinz ist er Witzbold, Spötter. Er bringt die Leute gern in Verlegenheit. Er ist imstande, uns vor den Liberalen lächerlich zu machen, bloß um seinen Spaß daran zu haben.«
Erst in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, nach drei Tagen des Hin- und Herredens, beugte sich der hochmütige Geistliche vor der zu Mut gewandelten Angst des Stadtoberhauptes. Der Pfarrer Chélan bekam einen honigsüßen Brief, in dem er gebeten ward, dem feierlichen Akt vor der Reliquie von Hohen-Bray beizuwohnen, wenn dies ihm bei seinem hohen Alter und seiner schwachen Gesundheit möglich wäre. Chélan sprach daraufhin den Wunsch aus, Julian als Subdiakon in seiner Begleitung zu haben. So erhielt auch Julian eine Aufforderung, der Zeremonie beizuwohnen.
Am Sonntag vormittag fluteten Tausende von Landleuten, die aus den nahen Bergen kamen, durch die Straßen von Verrières. Es war herrlicher Sonnenschein. Gegen drei Uhr erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Auf einer Höhe, eine Wegstunde vor der Stadt, loderte ein gewaltiges Feuer auf. Das war das Zeichen, daß Seine Majestät die Grenze des Regierungsbezirks überschritten hatte. Alsbald begannen überall die Glocken zu läuten, und die alte spanische Kartaune, die der Stadt gehörte, gab zur Feier des großen Ereignisses Salutschüsse ab. Die Hälfte der Einwohnerschaft war auf die Dächer gestiegen. Alle Balkons waren voller Damen.
Die Ehrenwache setzte sich in Bewegung, um den König einzuholen. Alles bewunderte die schmucken Uniformen. Man erkannte in dem und jenem Reiter Verwandte und Bekannte. Die Ängstlichkeit Moirods, der alle Augenblicke mit der Hand nach dem Sattelknopf fuhr, erregte Heiterkeit. Etwas aber übte die allergrößte Wirkung auf die schaulustige Menge aus. Man erblickte im Flügelmanne der neunten Rotte der Ehrengarde, einem bildhübschen überschlanken Burschen, der auf einem der stadtbekannten Valenodschen Pferde saß: den kleinen Sorel, den Müllersjungen ! Erst hatte man ihn übersehen. Jetzt erkannte man ihn unter Ausrufen der Entrüstung oder unter dem Schweigen der Verblüffung. Das war allgemein eine Sensation. Man schimpfte auf den Bürgermeister, zumal bei den Liberalen. Es sei unglaublich! Weil dieser Handwerkerjunge im Pfaffenrock der Schulmeister seiner Schlingel war, habe Rênal die Unverschämtheit, ihn in die Ehrenwache zu stecken, zur Benachteiligung soundso vieler reicher Fabrikantensöhne!
Die Ehefrau des Bankiers von Verrières meinte: »Man sollte diesem im Dreck geborenen Frechdachs eine ordentliche Lektion erteilen!«
»Er ist hinterlistig und trägt einen Säbel!« warnte ihre Nachbarin. »Er ist imstande und haut zu!«
Schlimmer noch waren die Vorwürfe der adligen Gesellschaft. Die Damen fragten sich, ob der Herr Bürgermeister wohl allein an dem großen Mißgriff schuld wäre. Eines erkannte man allgemein an: daß er den Standesunterschied nicht hatte gelten lassen.
Derweile war das Opfer all der Klatscherei der glücklichste Mensch der Welt. Von Natur beherzt, saß Julian besser zu Pferde als die
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