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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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wolkenlose Seligkeit, der lachende Lebensmut der ersten Liebestage war dahin. Damals hatte Frau von Rênal nur die eine Angst gehabt: Julian könne sie nicht genug lieben. Jetzt hatte ihr Glück den Geschmack des Verbrechens. Selbst in den wonnigsten und friedsamsten Stunden drückte sie manchmal plötzlich die Hände des Geliebten, flüsternd: »Ich bin der Hölle verfallen. Welch schreckliches Los. Aber ich verdiene es.« Und sie schmiegte sich eng an ihn, wie Efeu an die Mauer.
    Umsonst versuchte Julian ihr Seelenfieber zu kühlen. Dankbar zog sie seine Hand an sich und bedeckte sie mit Küssen. Dann sank sie wieder in düstere Versonnenheit. Bisweilen schien sie ruhiger zu werden. Wenigstens kam es Julian so vor. Sie versuchte sich zu beherrschen. Der Geliebte sollte nicht auch leiden.
    In diesem Wechsel von Liebe, Reue und Sinnenlust flogen die Tage mit Windeseile dahin. Julian kam nicht mehr dazu, über alles nachzugrübeln, wie er das früher getan hatte.

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Zwanzigstes Kapitel
Die anonymen Briefe
                                           Do not give dalliance
Too much the rein: the strongest oaths are straw
To the fire i' the blood.
    Shakespeare, The Tempest
    E lise, die Jungfer der Frau von Rênal, wanderte öfters nach Verrières, wo sie in ihrer Erbschaftsangelegenheit einen kleinen Prozeß zu führen hatte. Einmal begegnete ihr Valenod, der nach wie vor schlecht auf Julian zu sprechen war. Sie haßte Sorel, und so äußerten sie einander ihren Groll.
    »Ich darf Ihnen nicht alles sagen, Herr Valenod«, sagte sie unter anderm, »denn ich weiß, in wichtigen Dingen halten die Herrschaften immer zusammen. Es wäre mein Verderb. Gewisse Eröffnungen verzeiht man uns armen Dienstboten nie.«
    Nach solch herkömmlichem Gerede, das Valenod voll Ungeduld und Neugierde rasch beiseite schob, kamen Dinge zutage, die den eitlen Mann empfindlich kränkten. Die weit und breit vornehmste Dame, der er sechs Jahre lang den Hof gemacht hatte, noch dazu dummerweise vor aller Welt, diese stolze Frau, vor deren sichtlicher Verachtung er sich so oft klein vorgekommen war, hatte einen als Hauslehrer verkleideten Bauernburschen zum Liebsten! Noch nicht genug des Hohnes: die Unnahbare betete diesen Menschen an!
    Der Armenamtsvorstand geriet in die übelste Laune.
    »Ja freilich«, erzählte das Mädchen seufzend weiter, »Herr Julian hat diese Eroberung gemacht ohne jede Mühe. Kalt, wie er ist, war er auch mit ihr.«
    Elise war ihrer Sache erst sicher geworden, seit sie auf dem Lande wohnten, aber sie glaubte, das Verhältnis reiche weiter zurück.
    »Jetzt weiß ich auch«, schloß sie ärgerlich, »warum er mich nicht hat heiraten wollen. Und ich Schaf habe die Gnädige auch noch um Rat gefragt und sie gebeten, mit ihm zu reden!«
    Noch am selben Abend erhielt Herr von Rênal zugleich mit seiner Zeitung einen langen anonymen Brief, der ihn ausführlich davon unterrichtete, was in seinem Hause vorging. Julian beobachtete, wie er beim Lesen blaß wurde und ihm einen bösen Blick zuwarf.
    Den ganzen Abend erholte sich der Bürgermeister nicht von seinem Schreck. Vergeblich hofierte ihn Julian, indem er das Gespräch auf die Genealogie der burgundischen Adelsfamilien brachte.
    Als man um Mitternacht den Salon verließ, brachte es Julian zuwege, seiner Freundin zuzuraunen: »Wir wollen uns heute nacht nicht besuchen. Dein Mann hat Verdacht geschöpft. Ich möchte darauf schwören: das Schriftstück, das er heute unter Stöhnen gelesen hat, ist ein anonymer Brief!«
    Es war beider Glück, daß er sich in sein Zimmer einriegelte. Frau von Rênal bildete sich wahnwitzigerweise ein, Julians Warnung sei nur ein Vorwand, ihren Besuch abzuwehren. Sie verlor vollständig den Kopf und schlich sich zur gewohnten Stunde an seine Tür. Als er Geräusch auf dem Gange hörte, löschte er rasch seine Lampe aus. Er hörte, wie man sich draußen bemühte, die Tür zu öffnen. War das die Geliebte oder ihr eifersüchtig gewordener Gatte?
    Am nächsten Morgen ganz zeitig brachte die Köchin, die Julian wohlgesinnt war, ihm ein Buch, auf dessen Deckel ein paar italienische Worte gekritzelt standen:
    Guardate alla pagina 130.
    Julian bekam einen heftigen Schreck ob dieser Unvorsichtigkeit. Er schlug die Seite 130 auf und fand daselbst einen tränennassen Brief, der mit einer Stecknadel befestigt war. Er wimmelte von Verstößen gegen die Rechtschreibung. Sonst handhabte Frau von Rênal sie tadellos. Diese Nebensache rührte

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