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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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der Brief. Er untersuchte ihn nach allen Richtungen. »Ist das nicht die Handschrift einer Frau?« fragte er sich. »Und wenn dem so wäre, welches Frauenzimmer hat das geschrieben?«
    Er ging sämtliche ihm bekannte Frauen von Verrières durch, ohne einen bestimmten Verdacht zu schöpfen. »Sollte ein Mann den Wisch diktiert haben? Aber wer?« Auch diese Erwägung brachte kein Ergebnis. Er wußte, daß fast alle seine Bekannten ihm nichts Gutes und alles Schlechte gönnten.
    »Ich muß einmal meine Frau fragen«, sagte er sich schließlich, wie er dies gewohnt war. Er erhob sich von dem Lehnstuhle, in den er gesunken war.
    Kaum aufgestanden, schlug er sich vor die Stirn. »Beim Teufel!« sagte er sich. »Der muß ich doch vor allem mißtrauen! Sie ist jetzt mein Feind!« Tränen der Wut traten ihm in die Augen.
    Es war eine gerechte Vergeltung, daß dieser herzlose Mensch, dieser echte Provinzler, an den beiden Menschen, die seine besten Freunde waren, in diesem Augenblick am meisten zweifelte.
    »Des weiteren habe ich etwa zehn Freunde!« murmelte er vor sich hin. Er ließ sie im Geiste an sich vorüberziehen, wobei er bei jedem abwog, wie er ihn mehr oder weniger trösten würde. »Unsinn!« knirschte er. »Allen miteinander wird mein schändliches Mißgeschick eine Riesenfreude bereiten!« Dann wieder dachte er daran, daß er ein vielbeneideter Mann war. Wohlbegründetermaßen. Außer seinem prächtigen Stadthause, das durch den Aufenthalt Seiner Majestät auf ewig berühmt geworden war, besaß er das schmucke Schloß Vergy. Er hatte es blendendweiß anstreichen und die Fenster mit freundlichen grünen Läden schmücken lassen. Man sah das Schloß in einem Umkreise von drei bis vier Wegstunden. Es stach alle andern Landhäuser und sogenannten Schlösser der Nachbarschaft aus in ihrer altersgrauen Armseligkeit.
    Herr von Rênal konnte höchstens auf das Mitleid eines einzigen Freundes rechnen, nämlich des Kirchenvorstands von Verrières. Aber das war ein alter Schwachkopf, der bei jeder Gelegenheit in Tränen schwamm. Und dieser Mann sollte seine Zuflucht sein?
    »Ich bin das unglücklichste aller Menschenkinder!« rief er voll Grimm und Bitternis. »Ach, wie bin ich einsam!« Er seufzte tief auf. »Soll ich in meinem Unglück keinen einzigen Freund haben, mit dem ich mich beraten kann? Ich selber verliere ja den Verstand. Ich fühle es. O Falcoz 21 , o Ducros, ihr seid gerächt!«
    Das waren zwei Jugendfreunde, die er sich in seinem Dünkel 1814 entfremdet hatte. Sie waren nicht adelig, und er hatte die Kameradschaft, die zwischen ihnen von jeher gewaltet hatte, eindämmen wollen. Der eine der beiden, Falcoz, ein kluger und wackerer Mensch, war erst Papierhändler in Verrières gewesen; später hatte er sich in Besançon eine Buchdruckerei gekauft und eine Zeitung gegründet. Aber die Pfaffen beschlossen seinen Untergang. Infolgedessen wurde ihm die Druckerlaubnis entzogen und sein Blatt unterdrückt. Unter so traurigen Verhältnissen hatte Falcoz es gewagt, zum erstenmal nach zehn Jahren wieder an Herrn von Rênal zu schreiben. Der Bürgermeister von Verrières hielt sich für verpflichtet, ihm im Stil eines alten Römers zu antworten: »Wenn das Königliche Ministerium des Innern mein Gutachten hierüber einzuverlangen geruhen wollte, so würde ich es wie folgt formulieren: Man muß ohne Gnade und Barmherzigkeit sämtlichen Provinzdruckereien ein Ende bereiten und aus dem Druckgewerbe ebenso ein Staatsmonopol machen wie aus der Tabakfabrikation.« Jetzt erinnerte sich Rênal schaudernd seiner Antwort an den ehemaligen Freund, den damals ganz Verrières bedauerte. »Das hätte mir keiner gesagt, daß ich, der Bürgermeister, Großgrundbesitzer und Ritter, dies einmal bereuen würde!«
    In solchen Zornesanfällen, bald gegen sich selbst, bald gegen seine gesamte Umgebung, verbrachte er eine schreckliche Nacht. Auf den Gedanken aber, seine Frau zu belauern, kam er zum Glück nicht.
    »Ich bin an Luise gewöhnt. Sie ist in alle meine Angelegenheiten eingeweiht. Wenn ich morgen frei wäre und wieder heiraten wollte, fände ich keine, die sie mir ersetzte.« Nun umschmeichelte ihn der Gedanke, seine Frau sei schuldlos. Bei dieser Annahme sah er sich nicht mehr gezwungen, den Mann von Charakter zu spielen. Gab es eine einfachere Lösung? »Welche Frau hätte man nicht schon verleumdet?« fragte er sich.
    »Das hat aber auch seinen Haken!« rief er plötzlich aus und ging nervös auf und ab. »Soll ich gar dulden, wie

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