Rot und Schwarz
pekuniär wenig erfreulichen Einsicht, daß es angesichts des allgemeinen erbitterten Klatsches das allermißlichste wäre, wenn Julian – etwa als Hauslehrer im Hause Valenods – in Verrières verblieb. Rein wirtschaftlich betrachtet, konnte Julian kaum besseres tun, als das Angebot des Armenamtsvorstandes anzunehmen. Das war klar. Das beste hingegen für Herrn von Rênal war es, wenn Julian Verrières verließ und nach Besançon oder Dijon auf das Priesterseminar ging. Aber wie sollte man den jungen Mann dazu bringen? Und wovon sollte er dort seinen Unterhalt bestreiten?
Als Rênal die Notwendigkeit eines Geldopfers erkannte, verfiel er weit größerer Verzweiflung als vordem seine Frau. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Nach der Unterredung mit ihrem Mann hatte sie den Zustand errungen, in dem sich ein mutiger Mann befindet, der, müde des Lebens, eben Gift genommen hat. Er steht dem Leben neutral gegenüber. Schon schaut er die Welt in der Verklärung. In diesem Sinne hat Ludwig der Vierzehnte in seiner Todesstunde gesagt: »Als ich König war ...« 26 Ein großartiges Wort!
Es war kein leichtes Stück Arbeit, Herr von Rênal von dem Vorsatz, Valenod zu brüskieren, dahin umzustimmen, daß er Julian zunächst für ein Jahr sechshundert Franken Seminarzuschuß auszusetzen bereit war. Tausendfach verwünschte er den Tag, an dem er den so verhängnisvollen Plan gefaßt hatte, einen Hauslehrer zu nehmen.
Sein einziger Trost war ein Gedanke, den er seiner Frau verheimlichte. Durch Geschicklichkeit und mit Hilfe der romantischen Phantasie Julians hoffte er ihn dahin zu bringen, daß er sich schon für eine geringere Summe verpflichtete, Valenods Angebot auszuschlagen.
Noch mehr Mühe hatte Frau von Rênal, als sie Julian beweisen mußte, daß er eine Entschädigung ohne Bedenken annehmen könne, da er ja der Ehre ihres Mannes ein Opfer bringe, wenn er auf die ihm vor Zeugen angebotene Stelle mit achthundert Franken Gehalt im Hause Valenods verzichte.
»Aber ich habe doch nie einen Augenblick daran gedacht, die Stelle anzunehmen«, wandte Julian immer wieder ein. »Du hast mich zu sehr an das aristokratische Leben gewöhnt. Ich würde unter diesen groben Leuten zugrunde gehen.«
Die grausame Notwendigkeit beugte schließlich Julians Eigensinn mit eiserner Faust. Aber in seinem Hochmute gedachte er die vom Bürgermeister gebotene Summe höchstens als Darlehen zu nehmen und ihm dafür einen Schuldschein auszustellen, der samt Zinsen in fünf Jahren fällig sein sollte.
Frau von Rênal erinnerte sich, daß noch einige tausend Franken in der Grotte oben in den Bergen vergraben lagen. Obwohl sie wußte, daß Julian dieses Geld voll Entrüstung ablehnen werde, bot sie es ihm doch zaghaft an.
»Willst du mir die Erinnerung an unsre Liebe vergällen?« fragte er.
So verließ Julian das Städtchen. Herr von Rênal war selig. Im schicksalsreichen Augenblicke des Abschiedes brachte es Julian nicht übers Herz, Geld von ihm zu nehmen. Er wies es kurz und würdig ab. Der Bürgermeister fiel ihm tränenden Auges um den Hals. Julian hatte ihn um ein Zeugnis gebeten. In seiner Begeisterung fand Rênal nicht hochtrabende Worte genug, Julians Fähigkeiten und seine Führung ins rechte Licht zu setzen.
Der Scheidende besaß hundert Franken Ersparnisse. Die gleiche Summe nahm er sich vor, von seinem Freunde Fouqué zu leihen.
Tiefbewegt ging er. Aber kaum war er von Verrières, wo er so viel Liebe zurückließ, eine Wegstunde entfernt, da dachte er nur noch an das Glück, Besançon, die berühmte Stadt und Feste, kennenzulernen.
Drei Tage hielt er sich in den Bergen auf. Währenddem war Frau von Rênal die Beute der grausamsten Liebestäuschung. Wie friedsam dünkte sie das Leben! Und doch stand ihr das höchste Unglück bevor: das letzte Stelldichein mit einem Geliebten. Sie zählte die Stunden und die Minuten, die sie von der letzten Nacht mit Julian trennten.
Endlich in der Nacht vom dritten zum vierten Tage vernahm sie von ferne das verabredete Zeichen. Umgeben von tausend Gefahren erschien Julian.
Von diesem Augenblick an hegte sie nur den einen einzigen Gedanken: »Ich sehe ihn zum allerletzten Male!«
In der heißen Umarmung des Geliebten lag sie wie ein kaum noch lebender Körper. Ein paarmal zwang sie sich, Liebesworte zu flüstern, aber es geschah so linkisch, daß es fast lieblos klang, was sie stammelte. Immer wieder mußte sie dem entsetzlichen Gedanken nachhängen, daß es Abschied sei auf
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