Rot und Schwarz
immerdar. Bei seiner mißtrauischen Natur wähnte Julian, sie habe ihn bereits vergessen. Sie vermochte auf seine kränkenden Vorwürfe keine Worte zu erwidern, sondern nur große stille Tränen und fast krampfartige Händedrücke.
»Wie soll ich dir glauben?« entgegnete Julian auf eine ihrer wortarmen Beteuerungen.
Sie war zu Tode getroffen und fand keine Antwort. »Unmöglich kann man noch unglücklicher sein ... Hoffentlich sterbe ich bald ... Ich fühle, mein Herz steht still...«
Das waren die längsten Sätze, die Julian zuteil wurden.
Als der Morgen dämmerte und sie scheiden mußten, konnte sie nicht einmal mehr weinen. Stumm sah sie zu, wie er ein Seil mit Knoten am Fenster befestigte. Seine Worte, seine Küsse vermochte sie nicht zu erwidern.
Vergeblich sagte Julian zu ihr: »Jetzt sind wir endlich an dem Punkte, den du so sehr ersehnt hast. Fortan werden dich keine Gewissensbisse mehr quälen, und wenn eins deiner Kinder einmal ein wenig unwohl ist, wirst du dir nicht gleich einbilden, es müsse meinetwegen sterben!«
»Es tut mir leid, daß dir Stanislaus nicht Lebewohl sagen kann«, flüsterte sie tonlos.
Die kalten Liebkosungen der Halbtoten rührten Julian am Ende doch bis tief in sein Herz. Stundenlang kam er von dem Gedanken daran nicht los. Er war unsagbar traurig.
Auf der Höhe des Kammes drehte er sich wieder und wieder um, bis der Kirchturm von Verrières seinem Blick entschwand.
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Vierundzwanzigstes Kapitel
Eine Hauptstadt
Welch ein Lärm! Wie geschäftig die Leute sich umtun! Wie viele Zukunftsträume im Kopf eines Zwanzigjährigen! Welches Vergnügen für Verliebte!
Barnave
E ndlich erkannte Julian auf einer noch fernen Anhöhe schwärzliche Mauern: die Zitadelle von Besançon.
»Wie herrlich wäre es«, seufzte er, »wenn ich diese stolze Feste begrüßte, um als Leutnant in eins der Regimenter einzutreten, die den Platz zu verteidigen haben!«
Besançon ist nicht nur eine der hübschesten Städte Frankreichs. Es ist auch reich an guten gebildeten Menschen. Aber Julian, das arme Bauernkind, hatte nicht die Mittel, sich vornehmen Leuten zu nähern.
Er hatte sich von seinem Freunde Fouqué einen bürgerlichen Rock geliehen, und so überschritt er die Zugbrücke der Festung nicht in geistlicher Tracht. Den Kopf voll von der Geschichte der Belagerung von Besançon im Jahre 1674, wollte er die Burg und die Wälle besichtigen, ehe er sich im Seminar einkerkern ließ. Beinahe hätten ihn die Posten arretiert, weil er sich bis in Gebiete wagte, die der Militarismus der Allgemeinheit verbot, um daselbst für vier bis fünf Taler Heu im Jahre zu ernten.
Die Höhe der Mauern, die Tiefe der Gräben und der drohliche Anblick der Geschütze fesselten ihn mehrere Stunden. Alsdann begab er sich nach dem Boulevard. Vor einem Kaffeehause blieb er staunend stehen und las das ihm rätselhafte Wort CAFÉ, das in Riesenbuchstaben über den beiden breiten Eingangstüren des Lokals prangte. Das war ihm etwas ganz Wunderbares. Nach einem Kampfe mit seiner Schüchternheit nahm er sich ein Herz und trat ein. Es war ein dreißig bis vierzig Schritt langer, mindestens sechs Meter hoher Saal. An diesem Tage kam sich Julian sowieso wie in einem Märchen vor.
Auf zwei Billards wurde gespielt. Die Kellner riefen die
Points
aus, und die Spieler liefen um die von Zuschauern umlagerten Billards.
Julian konnte sich nicht satt sehen. Die stattlichen Männergestalten, ihre massigen Schultern, ihr schwerfälliger Gang, ihre riesigen Backenbärte und ihre langschößigen Röcke, alles das fesselte ihn. Die edlen Bürger des alten Bisontium redeten nicht wie gewöhnliche Menschen: sie schrien wie Wilde auf dem Kriegspfade. Regungslos stand Julian da. Das war also die Kreishauptstadt Besançon! Welche Pracht und Herrlichkeit! In seiner Bewunderung traute er sich nicht, einen der hochmütigen Herren, die die
Points
ausriefen, um eine Tasse Kaffee zu bitten.
Dem Fräulein am Büfett war das hübsche Gesicht des ländlichen jungen Mannes nicht entgangen, der, seinen kleinen Rucksack am Arm, drei Schritt vom Ofen entfernt dastand und die an der Wand postierte weiße Gipsbüste des Landesherrn anstaunte. Sie war eine Freigrafschaftlerin, groß, von prächtiger Figur und nett gekleidet, wie das ein gutes Kaffeehaus heischt. Schon zweimal hatte sie Julian mit leiser Stimme, die nur er hören sollte, angerufen: »Pst! Pst!«
Er wandte sich um, blickte in ein paar große blaue, gar zärtliche Augen und merkte, daß
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