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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Kameraden beschäftigten sich viel mit ihm. Das Endergebnis all des Abscheus, den er ihnen einflößte, floß in den Spitznamen aus, den Julian bekam: Martin Luther . Vornehmlich wegen der Teufelslogik, mit der er sich brüstete, hieß es.
    Etliche der Seminaristen hatten frischere Farben als Julian und konnten für hübscher gelten. Dafür besaß er weiße Hände und ein unverkennbares Reinlichkeitsbedürfnis. Diese Eigenschaften wurden ihm arg verübelt. Die schmutzigen Bauern, unter denen er lebte, erklärten, er sei ein lockerer Bursche.
    Von tausend Widerwärtigkeiten sind dies nur Beispiele. Man machte sogar Miene, ihn zu verprügeln. Julian bewaffnete sich deshalb mit einem eisernen Meßstab und gab zu verstehen, wenn auch nur durch Gesten, daß er sich damit wehren werde. Gesten nehmen sich im Tatbericht eines Denunzianten nicht so gefährlich aus wie Worte.

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Achtundzwanzigstes Kapitel
Eine Prozession
Alle Herzen waren ergriffen. Gott schien gegenwärtig, niedergestiegen in diese engen gotischen Gassen, die allenthalben von den Gläubigen mit Tüchern bespannt und mit Sand bestreut waren.
    Young
    U msonst suchte Julian dumm und klein zu erscheinen. Er gewann niemanden. Er war allzusehr anders. »Merkwürdig!« sagte er sich. »Meine Lehrer sind doch sehr gescheite Menschen, unter Tausenden erkoren! Warum würdigen sie meine Demut nicht?«
    Ein einziger, so schien es Julian, machte sich seinen guten Willen zunutze, indem er seiner Komödie glaubte oder so tat. Das war der Abbé Chas-Bernard, der Zeremonienmeister an der Kathedrale, der seit fünfzehn Jahren auf eine Domherrnstelle wartete. Bis dahin war er Lehrer der geistlichen Beredsamkeit am Seminar.
    Zur Zeit seiner Blindheit war Julian auch in diesem Unterrichtsfache einer der Ersten gewesen. Das hatte ihm die Freundschaft des Abbé eingetragen. Nach der Stunde nahm er ihn manchmal am Arm und wandelte mit ihm durch den Garten.
    »Ob er dabei eine Absicht hat?« fragte sich Julian. Er wunderte sich, wenn ihm der Abbé stundenlang von den Prunkgewändern erzählte, die im Besitze der Kathedrale waren. Er verlor sich dabei in allerlei Einzelheiten. »Was bezweckt der Mann mit der langweiligen Aufzählung all dieses Trödels?« dachte Julian. »Das kommt mir wie eine schlaue Vorrede vor. Aber immer wieder dasselbe? Es folgt nichts. Er muß mir stark mißtrauen. Allerdings, er ist klüger als alle die andern, die man nach vierzehn Tagen bis in ihre geheimsten Gedanken durchschaut. Auch weiß ich, daß sein Ehrgeiz seit anderthalb Jahrzehnt leidet.«
    Eines Abends, mitten in der Fechtstunde, wurde Julian zum Direktor gerufen.
    »Morgen ist Fronleichnamsfest«, sagte Pirard. »Herr Abbé Chas-Bernard wünscht, daß Sie ihm beim Ausschmücken der Kathedrale helfen. Gehen Sie und gehorchen Sie!«
    Dann rief er ihn noch einmal zurück und sagte ihm in mitleidigem Tone: »Wenn Sie sich bei dieser Gelegenheit ein wenig in der Stadt umsehen wollen, habe ich nichts dagegen.«
    Julian erwiderte: »
Incedo per ignes
!« Zu deutsch: »Ich habe verborgene Feinde!«
    Am nächsten Morgen, in aller Frühe, ging er mit gesenktem Blick nach der Kathedrale. Der Anblick der Straße und des beginnenden Lebens in der Stadt tat ihm wohl. Überall sah er, daß man die Häuserfassaden für die Prozession behing.
    Es war ihm zumute, als sei er erst gestern in das Seminar gekommen. Das Schloß Vergy erstand vor seiner Phantasie. Dann fiel ihm die hübsche Amanda ein. Ob er ihr begegnen würde? Das Kaffeehaus war in der Nähe. Da erblickte er von weitem, am Portal seiner geliebten Kathedrale, die wohlbeleibte Gestalt des Abbé Chas-Bernard, dessen freundliches offenes Gesicht heute leuchtete.
    »Ich warte schon auf Sie, mein lieber Sohn!« rief der Abbé dem Seminaristen aus großer Entfernung entgegen, sobald er ihn erkannt hatte. »Willkommen! Wir haben heute viel und schwere Arbeit. Stärken wir uns durch einen Imbiß. Das richtige Frühstück folgt um zehn Uhr, während des Hochamts.«
    »Euer Hochehrwürden bitte ich«, sagte Julian ernst, »mich keinen Augenblick allein zu lassen. Wollen Sie gütigst feststellen, daß ich eine Minute vor fünf Uhr zur Stelle bin?« Dabei zeigte er nach der Turmuhr über ihren Häuptern.
    »Aha!« meinte der Abbé. »Sie haben Angst vor Ihren Kollegen! Sie tun den kleinen Bösewichtern zu viel Ehre an. Ein schöner Weg bleibt schön, auch wenn ihn Hecken mit Dornen umstehn. Der brave Wandersmann geht seinen Pfad und läßt die bösen Dornen

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