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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Dornen sein ... Jetzt aber ans Werk, mein lieber Freund! Ans Werk!«
    Der Abbé hatte mit seiner Voraussage, die Arbeit sei schwer, nicht unrecht. Am Tage vorher war in der Kirche eine große Trauerfeier abgehalten worden. Man hatte nichts vorbereiten können, und so galt es, an einem Vormittag die gotischen Pfeiler, die die drei Kirchenschiffe bildeten, bis zu einer Höhe von beinahe zehn Metern mit rotem Damast zu bekleiden. Wohl hatte der Bischof vier Tapezierer mit der Eilpost aus Paris kommen lassen. Doch vermochten diese Leute nicht allein mit allem fertig zu werden. Dazu kam, daß sie die schwerfälligen Besançoner Handwerker, die ihnen helfen sollten, durch ihre spöttischen Anweisungen verwirrten, statt sie verständig anzustellen.
    Julian sah, daß er selber auf die Leiter steigen mußte. Seine Behendigkeit kam ihm hierbei zugute. Er übernahm die Leitung der einheimischen Arbeiter. Der Abbé schaute ihm voll Freude zu, wie er von einer Leiter auf die andere kletterte. Als alle Pfeiler mit Damast umkleidet waren, galt es, den Baldachin über dem Hauptaltar mit fünf riesigen Federbüschen zu schmücken. Das reichvergoldete Dach ruhte auf acht hohen gewundenen Säulen aus italienischem Marmor. Wenn man nun nach der Spitze des Baldachins, über dem Tabernakel, wollte, mußte man in einer Höhe von mehr denn zwölf Metern über einen alten, vielleicht morschen Holzsims hingehen. Angesichts dieses gefährlichen Steges verloren die Pariser Tapezierer ihre strahlende Heiterkeit. Sie schauten empor, diskutierten lang und breit, aber keiner von ihnen stieg hinauf.
    Julian ergriff die Federbüsche, kletterte flugs die Leiter hinan und befestigte die Büsche säuberlichst in Form einer Krone auf der Dachspitze des Baldachins. Als er wieder unten anlangte, schloß ihn der Abbé gerührt in die Arme.
    »
Optime!
« rief der biedere Priester. »
Optime!
Das werde ich Seiner Hochwürden vermelden.«
    Das Zehn-Uhr-Frühstück verlief in frohester Stimmung. Abbé Chas-Bernard hatte seine Kirche noch nie so schön gesehen.
    Er begann zu erzählen: »Mein lieber Schüler, hier in dieser ehrwürdigen Basilika war meine selige Mutter Stuhlvermieterin. Ich bin also in diesen hohen Hallen aufgewachsen. Dann kam die Schreckensherrschaft Robespierres und richtete uns zugrunde. Bereits als kleiner Bursche von acht Jahren ministrierte ich bei den Messen. An solchen Tagen gab man mir das Mittagessen. Niemand verstand ein Meßgewand so gut zusammenzulegen wie ich. Nie wurden die Goldborten geknickt. Seit der Wiedereinführung des Gottesdienstes durch Napoleon habe ich das Glück, die Zeremonien in dieser ehrwürdigen Kathedrale zu leiten. Fünfmal im Jahre sehen meine Augen die Kirche in diesem herrlichen Schmuck. Aber niemals hat sie so prächtig ausgesehen. Niemals lag der Damast so glatt an den Säulen ...«
    »Endlich«, dachte Julian, »wird er sich mir anvertrauen. Er fängt an, von sich zu reden. Er wird mir sein Herz ausschütten.«
    Aber es kam nichts Unbedachtes über die Lippen des so sichtlich begeisterten Mannes. »Er ist glücklich«, sagte sich Julian. »Das ist ein Mann! Ein Vorbild für mich. Ehre, wem Ehre gebührt!«
    Dieses Sprichwort war eine Erinnerung an den alten Stabsarzt, den Freund seiner Kindheit.
    Als es dann beim Hochamt zum Sanktus klingelte, wollte Julian ein Chorhemd anziehen und sich der Prozession anschließen.
    »Die Diebe, mein lieber Freund! Die Diebe!« rief der Abbé. »Daran denken Sie nicht! Die Prozession wird gleich dasein. Wir müssen achtgeben, Sie und ich. Wir können froh sein, wenn uns hinterher bloß ein paar Ellen von der schönen Borte fehlen, die unten um die Säulen läuft. Echte Goldborte, Verehrtester! Sie werden das nördliche Seitenschiff beaufsichtigen. Bleiben Sie ja dort! Ich nehme das Hauptschiff und das südliche Seitenschiff. Passen Sie auf die Beichtstühle auf! Daselbst lauern die Helferinnen der Diebe auf den Moment, wo wir den Rücken kehren.«
    In diesem Augenblick schlug es drei viertel zwölf. Die große Glocke begann zu läuten, laut und wuchtig. Diese vollen feierlichen Klänge erschütterten Julian. Seine Gedanken vergaßen die Erde. Der Duft des Weihrauchs und der Rosenblätter, von kleinen Kindern vor den Altar hingestreut, brachte ihn vollends in Verzückung. Um bei Verstand zu bleiben, hätte er nur daran zu denken brauchen, daß die Glocken von einem Dutzend armer Schlucker um einen Hundelohn in Bewegung gesetzt wurden. Statt dessen schweifte Julians

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