Rot und Schwarz
Unachtsamkeit daran schuld ... Ach, wie nützlich wären mir ein paar Fingerzeige Pirards gewesen!«
Von der Stunde an, da er klarsah, wandelten sich ihm die langwierigen Übungen in frommer Askese, das Rosenkranzbeten fünfmal in der Woche, das Absingen der Herz-Jesu-Lieder und ähnliche Verrichtungen, die ihm früher zum Sterben öde vorgekommen waren, zu höchst interessanten Betätigungen. Indem er streng über sich nachdachte und sich insbesondre vor der Überschätzung seiner Kräfte hütete, war es ihm nicht wie den Seminaristen, die den andern zum Vorbild dienten, glattweg darum zu tun, jeden Augenblick etwas Bezeichnendes zu vollbringen, d. h. christliche Vollkommenheit an den Tag zu legen. Im Seminar versuchte man durch die Art, das Ei in der Schale zu essen, Fortschritt in der Heiligkeit zu dokumentieren.
Julians Streben ging zunächst dahin, das
non culpa
zu erreichen, also das Niveau des jungen Seminaristen, dessen Gang, Arm- und Augenbewegungen nichts eigentlich Weltliches zeigen, aber auch noch nicht von dem Glauben an das Leben im Jenseits und an die absolute Nichtigkeit dieser Welt völlig beherrscht werden.
An die Wände der Gänge waren allerlei Sprüche gekritzelt, zum Beispiel: »Was sind sechzig Jahre Prüfung im Vergleich zur Ewigkeit im Paradiese oder zur Ewigkeit im siedenden Öl der Hölle?« Er hatte dergleichen Sätze früher belächelt. Jetzt begriff er, daß man sie immerdar vor Augen haben müsse. »Was wird denn meine Beschäftigung lebenslang sein?« fragte er sich. »Ich werde den Frommen Plätze im Himmel verkaufen. Und wie kann man sie überzeugen, daß diese Plätze wirklich existieren? Doch nur dadurch, daß man sich selber äußerlich anders zeigt, als der Laie aussieht.«
Nach mehreren Monaten beständiger Selbstzucht sah man Julian immer noch an, daß er dachte . Seine Art, die Augen zu bewegen, den Mund zu verziehen, zeigten noch nichts von jener Glaubenseinfalt, die imstande ist, alles zu glauben und alles zu dulden, und wäre es das Martyrium. Voll Ingrimm erlebte es Julian, daß die dümmsten Bauerntölpel ihn in dieser Kunst übertrafen. Es war allerdings kein Wunder, daß diese Burschen nicht aussahen wie Denker.
Julian gab sich unsägliche Mühe, den Gesichtsausdruck jenes blinden fanatischen Glaubens zu erringen, den man unter den italienischen Mönchen so häufig antrifft. Meister Guercino führt ihn dem Laien in seinen Kirchenbildern wahrheitsgetreu vor Augen.
An den hohen Festtagen gab es im Seminar Bratwurst mit Sauerkraut. Julians Tischnachbarn bemerkten, daß er keinen Sinn für diesen Hochgenuß hatte. Das war wieder ein Kapitalverbrechen. Seine Kameraden erblickten darin häßliche dumme Heuchelei. Nichts schuf ihm mehr Feinde. »Seht den eingebildeten Bourgeois!« tuschelten sie untereinander. »Er tut so, als verachte er Bratwurst und Sauerkraut! Diese Delikatesse! Zum Teufel mit so einem gottverdammten albernen Fatzken!«
Eines Tages ließ der Direktor Pirard Julian zu sich rufen. Es war mitten in der Kirchenlehre-Stunde. Der Ärmste war froh, der körperlichen und geistigen Enge des Unterrichts entrinnen zu dürfen.
Der Abbé empfing ihn in der nämlichen furchterweckenden Art und Weise wie damals, als Julian in das Seminar eintrat.
»Erklären Sie mir, was auf dieser Spielkarte steht!« befahl er mit einer Miene, als wolle er seinen Zögling morden.
Julian las: Amanda Binet. Café zur Giraffe. Vor acht Uhr. Sagen, aus Genlis gebürtig und Vetter meiner Mutter.
Julian erkannte die ungeheure Gefahr. Ein Spion des Abbé Castanède hatte ihm diesen Merkzettel gestohlen.
»Am Tage, als ich ins Seminar eintrat...«, berichtete er, und weil es ihm unmöglich war, dem Direktor in seine gräßlichen Augen zu schauen, richtete er seinen Blick auf Pirards Stirn, »... da war mir ängstlich zumute. Der Herr Pfarrer Chélan hatte mir gesagt, es wimmele hier von Angebern und bösen Menschen, und Spioniererei und Verdächtigungen seien unter den Seminaristen gang und gäbe. Der Himmel wolle es so, um den angehenden Priestern das Leben zu zeigen, so wie es ist, und sie mit Abscheu vor dieser Welt und ihrem Gepränge zu erfüllen ...«
»Wollen Sie mir eine Predigt halten, jugendlicher Schelm, Sie?« unterbrach ihn der Abbé zornig.
»In Verrières«, fuhr Julian kaltblütig fort, »schlugen mich meine Brüder, wenn sie irgendwie neidisch auf mich waren ...«
»Zur Sache! Zur Sache!« rief Pirard fast außer sich.
Julian ließ sich nicht im geringsten
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