Rot und Schwarz
einschüchtern. Er erzählte ruhig weiter.
»Es war am Tage meiner Ankunft hier in Besançon. Gegen Mittag bekam ich Hunger und ging in ein Kaffeehaus. Zwar empfand ich Widerwillen in mir, einen so profanen Ort zu betreten, aber ich dachte, mein Frühstück würde mich dort billiger kommen als im Gasthof. Eine Dame, wahrscheinlich die Besitzerin des Lokals, hatte Mitleid mit meiner Unerfahrenheit. › Besançon ist voll von schlechten Menschen‹, sagte sie zu mir. ›Ich habe Angst um Sie. Wenn Ihnen etwas Mißliches zustoßen sollte, so wenden Sie sich nur an mich. Schicken Sie vor acht Uhr zu mir. Wenn sich der Pförtner im Seminar weigert, Ihren Auftrag zu übernehmen, so sagen Sie, Sie wären ein Vetter von mir und aus Genlis gebürtig ...‹«
»Wir werden ja sehen, ob dieses Geschwätz wahr ist«, meinte Pirard, der vor Erregung von seinem Stuhle aufgestanden war und im Zimmer umherlief. »Jetzt marsch in Ihre Zelle!«
Der Abbé folgte Julian und schloß ihn ein. Sogleich fing dieser an, seinen Koffer zu untersuchen, in dem die verhängnisvolle Karte ganz zu unterst, sorgfältig versteckt, gelegen hatte. Es fehlte nichts; nur waren die Sachen etwas in Unordnung geraten. Und doch hatte er den Schlüssel stets bei sich getragen!
»Es ist noch ein Glück«, dachte Julian bei sich, »daß ich in der Zeit meiner Blindheit von der Erlaubnis, auszugehen, niemals Gebrauch gemacht habe. Der Abbé Castanède hat mich wiederholt auffällig freundlich dazu aufgefordert. Jetzt begreife ich, warum. Vielleicht wäre ich schwach genug gewesen, Zivil anzuziehen, um die schöne Amanda zu besuchen. Dann war ich verloren! Als sich die Erwartung meiner Feinde nicht erfüllte, haben sie sich begnügt, mich zu denunzieren.«
Zwei Stunden später ließ ihn der Direktor abermals kommen.
»Gelogen haben Sie nicht!« sagte er in nicht mehr so strengem Tone. »Aber eine solche Adresse aufzubewahren, war eine Unvorsichtigkeit, deren Tragweite Sie gar nicht ermessen können. Unter Umständen kann Ihnen diese Geschichte noch in zehn Jahren schaden.«
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Siebenundzwanzigstes Kapitel
Erste Lebenserfahrung
Die gegenwärtige Zeit, guter Gott! ist wie die Bundeslade. Wehe dem, der daran rührt!
Diderot
J ulian hatte mit seiner Scheinheiligkeit wenig Erfolg. Zeitweilig hatte er Anfälle von Ekel, ja völliger Verzweiflung. Er kam nicht vorwärts. Um so widerlicher dünkte ihn der geistliche Beruf. Der geringste Zuspruch von außen hätte genügt, ihm das Herz auf den rechten Fleck zu setzen. Die Schwierigkeiten, die er zu bekämpfen hatte, waren nicht unüberwindlich, aber er segelte allein dahin wie ein einsames Schifflein im Weltenmeer. »Und wenn ich auch vorwärtskomme«, sagte er sich, »so habe ich doch ein ganzes Leben in so übler Gesellschaft vor mir. Ich konkurriere mit Vielfraßen, die an nichts denken als an die Speckpfannenkuchen, die sie zu Mittag verschlingen werden, oder mit Halunken, denen wie dem Abbé Castanède kein Verbrechen zu schwarz ist... Diese Leute gelangen zur Macht. Ja, aber um welchen Preis! Der feste Wille eines Menschen vermag viel. Das weiß ich. Aber genügt der Wille, um so starken Ekel zu überwinden? Die großen Männer der Geschichte hatten es leicht. So schrecklich auch die Gefahren waren: sie fanden sie schön. Aber niemand außer mir kennt die häßlichen Dinge, die mich umstarren!«
Er befand sich im Stadium der schwersten Prüfung. Ohne Mühe wäre es ihm möglich gewesen, in eins der schönen Regimenter, die in Besançon in Garnison standen, einzutreten. Auch hätte er Lateinlehrer werden können. Zu seinem Unterhalt hätte er blutwenig nötig gehabt. Aber dann war es mit der Priesterlaufbahn aus und mit jedweder höheren Zukunft. Nicht mehr hoch hinaus wollen, war ihm gleichviel wie Sterben.
»In meinem Dünkel habe ich mich oft erhaben gefühlt, weil ich anders bin als alle diese Bauernjungen«, sagte er sich eines Morgens. »Aber ich bin doch alt genug, um eines zu erkennen: Anders sein zeugt Haß!«
Zu dieser großen Wahrheit kam er durch einen seiner schmerzlichen Mißerfolge. Er hatte sich eine volle Woche lang Mühe gegeben, einem Kameraden zu gefallen, der im Rufe der Heiligkeit stand. Er ging mit ihm im Hofe spazieren und hörte ergeben seinen dummen und sterbenslangweiligen Reden zu. Plötzlich zog ein Gewitter auf. Es donnerte. Da stieß ihn der Heilige derb von sich und schrie ihm zu: »Hören Sie das Gewitter? In dieser Welt ist jeder sich selbst der Nächste! Ich habe
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