Rot wie das Meer
lächerlich und zugleich erschreckend typisch für Thisby ist. »Puck!«, ruft sie wieder und schüttelt diesmal eine Traube Novemberglöckchen in meine Richtung – wodurch sie nicht nur meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern auch die der Leute in meiner Nähe. Sorgsam legt sie die Glöckchen vor sich auf den Tisch, sodass das Preisschild gut sichtbar ist.
»Hallo«, sage ich. Vom Strand dringt ein lauter Schrei zu uns herüber und mir wird seltsam flau im Magen.
»Wo ist denn dein Pferd?«, fragt Dory Maud. »Oder willst du etwa ohne Dove da unten trainieren?«
»Ich bin gestern Abend mit ihr von Hastoway nach Hause geritten. Sie ruht sich ein bisschen aus und ich wollte mir von der Klippe aus das Training ansehen.«
Dory Maud mustert mich skeptisch.
»Taktik«, füge ich ungeduldig hinzu. »Ich entwickle gerade eine Taktik. Ein Rennen zu reiten, heißt nicht bloß reiten, weißt du?«
»Davon hab ich keine Ahnung«, erwidert Dory Maud. »Ich weiß nur, dass Ian Privetts Pferd erst ganz am Ende an der Außenseite aufholt, falls es so läuft wie im letzten Jahr, als er mit ihm gestartet ist.«
Ich erinnere mich an das, was Elizabeth über Dory Mauds Rennwetten erzählt hat. Mum hat einmal zu Dad gesagt, dass Laster nur mit den Augen der Gesellschaft betrachtet Laster sind. Dorys Laster kommt mir gerade sehr gelegen. »Und was weißt du sonst noch so?«
Dory Maud hebt die Arme, um ein Stück flatternde Zeltplane zu befestigen, bevor sie erwidert: »Ich weiß, dass ich dir mehr erzählen würde, wenn du später noch mal wiederkommen und eine Weile auf den Stand aufpassen könntest, damit ich mittagessen gehen kann.«
Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu. Auch das ist etwas, von dem ich geglaubt habe, dass es mir als Teilnehmerin bei dem Rennen erspart bleiben würde. »Ich überleg's mir. Wo kommt eigentlich dieser Lärm her, weißt du das?«
Dory Maud blickt sehnsüchtig die Straße zum Strand hinunter. »Ach, das ist nur wegen Sean Kendrick.«
Neugier keimt in mir auf. »Was ist mit Sean Kendrick?«
»Sie haben seinen roten Hengst da unten. Mutt Malvern und ein paar von den anderen Jungs.«
»Ist Sean dabei?«
Dory Maud wirkt missmutig darüber, dass sie hier an ihrem Stand festsitzt, anstatt hinuntergehen zu können und sich das Spektakel selbst anzusehen. »Ich hab ihn nicht gesehen. Es heißt, dass er das Rennen vielleicht gar nicht reitet. Dass er und Benjamin Malvern sich
über den Hengst gestritten haben und er gekündigt hat. Kendrick, meine ich.«
»Gekündigt?«
»Bist du vielleicht taub?« Dory Maud schüttelt die Glöckchen direkt neben meinem Ohr. Dann ruft sie jemandem hinter mir zu: »Novem-berglöckchen! Das beste Angebot auf der ganzen Insel!« Manchmal erinnert sie mich ziemlich stark an ihre Schwester Elizabeth, und das nicht im positiven Sinne. Zu mir sagt sie: »Na ja, sind ja nur Gerüchte, nicht wahr? Es heißt, dass Kendrick den Hengst kaufen wollte und Malvern Nein gesagt hat, darum hat er alles hingeschmissen.«
Ich denke an Sean, wie er ohne Sattel, tief über den Hals des roten Hengstes gebeugt, über die Klippen galoppiert ist. Wie vertraut sie miteinander wirkten, als ich mich mit ihm getroffen habe, um mir die Uisce -Stute anzusehen. Ich denke sogar an den Moment, als Sean beim Skorpio-Fest auf dem blutbeschmierten Felsen stand und seinen Namen und dann Corrs sagte, einen nach dem anderen, als sei es eine Tatsache. Daran, wie er Der Himmel und der Sand und die See und Corr gesagt hat. Und die Ungerechtigkeit versetzt mir einen Stich, denn es scheint mir, als sei Corr in jeder Hinsicht Seans Pferd, nur eben nicht auf dem Papier.
»Was machen die da unten mit ihm?«
»Woher soll ich das wissen? Ich hab nur gesehen, wie sie hier vorbeimarschiert sind und dass Mutt Malvern gegrinst hat, als hätte er heute Geburtstag.«
Das Gefühl der Ungerechtigkeit wird noch stärker. Ich ändere spontan meine Pläne, das Training von der Klippe aus zu beobachten, und beschließe, stattdessen zum Strand hinunterzulaufen und nachzusehen, was dort los ist.
»Ich gehe runter.«
»Rede bloß nicht mit Malverns Sohn«, warnt Dory Maud mich.
Ich habe mich schon umgedreht, doch ich werfe noch einen Blick zurück über die Schulter und frage: »Wieso nicht?«
»Weil er antworten könnte!«
Ich haste die Klippenstraße hinunter an den restlichen Zelten vorbei; dort, wo der Weg steil abzufallen beginnt, können die Händler ihre Stände nicht mehr aufstellen und es wird langsam
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