Rot wie das Meer
ruhiger. Da unten ist er, der rote Hengst, zusammen mit vier Männern, die ihn umzingelt haben. Ich erkenne das quadratische Gesicht von Mutt Malvern und den Mann, der den Strick hält – David Prince, weil er früher auf dem Hammond-Hof ganz in unserer Nähe gearbeitet hat –, aber keinen der anderen. Um das Grüppchen herum hat sich ein lockerer Kreis von Leuten gebildet, die sich das Geschehen ansehen, lachen und johlen. Mutt ruft etwas zurück. Corr reißt den Kopf in die Höhe, was einen Ruck durch den Arm des Mannes sendet, der ihn hält, und stößt einen Schrei in Richtung der See aus, hoch und klar.
Mutt lacht. »Probleme, ihn zu halten, Prince?«
»Ich halte ihn!«, schreit einer der Zuschauer und noch mehr Gelächter erhebt sich.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn mir jemand Dove wegnehmen würde, und Wut breitet sich in meinem Magen aus.
Ich weiß, dass Sean irgendwo hier sein muss. Es dauert einen Moment, bis ich ihn entdeckt habe, aber mittlerweile weiß ich, wonach ich Ausschau halten muss: nach dem Ort, an dem sich nichts regt, nach einer einzelnen Person ein Stückchen abseits vom Rest. Und ja, da steht er, mit dem Rücken zur Felswand, den einen Arm über den Bauch gelegt und den Ellbogen des anderen daraufgestützt. Er presst sich die Fingerknöchel fest gegen die Lippen, aber sein Gesicht ist völlig ausdruckslos. Etwas an der Art, wie er dort steht und die Szene beobachtet, ist schrecklich anzusehen. Er ist nicht ruhig, er ist wie erstarrt.
Unten am Strand stößt Corr einen weiteren Schrei aus und Mutt schlingt ihm ein mit Glöckchen besetztes rotes Band um das Fesselgelenk, kurz über dem Huf. Bei ihrem Klang zuckt der Hengst zusammen, als bereiteten ihm die Glöckchen körperlichen Schmerz, und ich stelle fest, dass ich Tränen in den Augen habe.
Sean Kendrick wendet das Gesicht ab.
Es liegt ein solches Elend in dieser Geste, dass ich ihn einfach nicht allein dort stehen lassen kann. Ich bahne mir mit den Ellbogen einen Weg durch die Touristen und die Einheimischen, die dastehen und gespannt auf den Strand hinuntersehen. Mein Herz pocht in meiner Brust. Ich denke daran, wie Sean zu mir gesagt hat: Halt dich mit deinem Pony vom Strand fern. Vielleicht bin ich der letzte Mensch, den er jetzt sehen will.
Ich stelle mich mit verschränkten Armen neben ihn. Keiner von uns sagt etwas. Ich bin froh, dass er nicht hochsieht, denn Mutt hat Corr jetzt einen Sattel aufgelegt und als Nächstes stülpen sie ihm ein mit Nägeln und Glöckchen bestücktes Vorderzeug über den Widerrist. Die Haut des Hengstes zittert, wo immer sie mit dem Eisen in Berührung kommt.
Nach einer Weile sagt Sean leise, ohne den Blick vom Boden zu heben: »Wo ist dein Pferd?«
»Ich habe gestern Abend mit Dove trainiert, nachdem der Regen aufgehört hatte. Wo ist deins?«
Er schluckt.
»Wie können sie so etwas nur tun?«, stoße ich hervor.
Corr gibt einen seltsamen, wilden Laut von sich, ein halbes Wiehern, erstickt, bevor es richtig begonnen hat. Er steht jetzt ganz still, aber er schüttelt immer wieder den Kopf, als versuche er, eine Fliege zu verscheuchen.
»Ich glaube«, sagt Sean mit derselben leisen Stimme, »es ist klug von dir, dass du dein eigenes Pferd reitest, Puck, auch wenn es nur ein einfaches Inselpony ist. Es ist besser, wenn dein Herz nur dir selbst gehört.«
Mutt Malvern höhnt: »Ich dachte, er wäre größer.«
Er ist auf Corrs Rücken gestiegen, aber Prince hält noch immer den Strick. Einer der anderen Männer hat sich zwischen Corr und das Meer gestellt, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt wie ein menschlicher Zaun. Mutt schlenkert mit den Beinen und späht nach unten wie ein Kind auf einem Pony.
»Das da ist Mutt Malverns Geschenk an mich«, sagt Sean und in seinen Worten liegt so viel Bitterkeit, dass auch ich sie schmecken kann. »Es ist alles meine Schuld.«
Ich will etwas sagen, um ihn zu trösten. Obwohl ich gar nicht weiß, ob er das überhaupt will. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich nicht einmal sicher, ob ich an seiner Stelle getröstet werden wollte. Wenn ich gezwungen bin, Dreck zu essen, dann will ich hören, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt, der das auch tun muss, dann will ich hören, dass Dreck widerlich schmeckt. Dann will ich nicht gesagt bekommen, dass er gut für die Verdauung ist. Und mit Dreck meine ich selbstverständlich Bohnen.
»Mag schon sein«, erwidere ich. »Aber in zwanzig oder dreißig Minuten oder spätestens einer Stunde wird Mutt
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