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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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seinen Körper umschlingen. Es scheint unmöglich, dass Padgett unter dem Gewicht nicht zusammenbricht, aber das Pferd hält ihn bei den Schultern aufrecht, einen kurzen Moment, bevor es sich auf die Knie fallen lässt und Padgett unter seiner Brust begräbt.
    Erst jetzt beginnt Mutt, wie von Sinnen an dem Strick um den Hals des Pferdes zu zerren, aber es ist vergebens, zu spät, und was hat er einem Capaill Uisce schon entgegenzusetzen?
    Padgett ist kaum mehr zu erkennen. Inzwischen gleicht er weniger einem Menschen als vielmehr einem Klumpen rohen Fleisches. Ich höre die flehende Stimme eines der Männer: »Kendrick.« Ich trete vor, und kurz bevor ich das Pferd erreiche, spucke ich mir in die linke Hand, dann greife ich mir ein Büschel seiner Mähne, direkt hinter den Ohren. Mit der rechten Hand ziehe ich eine rote Kordel aus der Jackentasche und presse sie dem Tier auf die knochige Nase. Es zuckt zurück, aber meine Hand liegt fest auf seinem Schädel und Nacken. Ich flüstere ihm etwas ins Ohr und es taumelt rückwärts. Während es kurz um sein Gleichgewicht kämpft, landet einer seiner Hufe in Padgetts Bauch. Aber um Padgett kann ich mich im Moment nicht kümmern. Das Einzige, was mich jetzt kümmern darf, ist, dieses zentnerschwere Pferd, das bereits zwei Männer außer Gefecht gesetzt hat, mit nichts als einer dünnen Kordel unter Kontrolle zu halten. Ich muss es von den anderen wegbringen, bevor es sich aus meinem viel zu schwachen Griff befreit.
    »Wag es nicht, den Gaul entwischen zu lassen«, bellt Mutt mir zu.
    »Nicht nach dem Theater. Bring ihn in den Stall. Sorg dafür, dass das hier nicht alles umsonst war.«
    Ich würde ihn gern anschreien, dass dies ein Wasserpferd ist, kein Schoßhündchen, und ich keineswegs vorhabe, es weiter landeinwärts zu zerren, weg von der eisigen Herbstsee. Aber ich will nicht die Stimme erheben und dem Pferd noch bewusster machen, dass ich direkt neben ihm stehe.
    »Tu, was du für richtig hältst, Kendrick!«, schreit Brian, der inzwischen auch den Strand erreicht hat.
    »Wehe, du lässt ihn entwischen«, brüllt Mutt zurück.
    Allein dafür zu sorgen, dass niemand mehr zu Schaden kommt, wäre ein Kunststück. Auch das Pferd freizulassen, es so weit ins Meer zu bringen, dass die Männer sicher entkommen könnten, wäre eine große Leistung, aber jeder von ihnen weiß, dass ich zu mehr in der Lage bin, als sie bloß lebend hier rauszubringen – allen voran Mutt Malvern.
    Doch ich wispere dem Pferd ins Ohr wie die rauschende See und trete einen Schritt zurück, außer Reichweite der zuckenden Lichtkegel. Weg von ihnen allen, in Richtung des Meers. Meine Socke saugt die Flut in meinen Stiefel. Das graue Pferd zittert unter meinen Händen.
    Ich drehe mich noch einmal zu Mutt um und lasse das Pferd los.

5
    Puck Ich habe nicht das Gefühl, geschlafen zu haben, aber das muss ich wohl, denn am Morgen sind meine Augen verklebt und mein Bettzeug sieht aus, als hätte ein Maulwurf darin gewütet. Der blauschwarze Himmel vor meinem Fenster sagt mir, dass der Tag noch nicht ganz angebrochen ist, aber ich beschließe, dass ich jetzt wach bin, egal, wie spät es sein mag. Zitternd stehe ich zu lange in meinem Schlafoberteil – dem mit den kratzigen Spitzenträgern, dass ich aber trotzdem trage, weil Mum es mir genäht hat – vor dem Kleiderschrank und starre auf seinen Inhalt, während ich versuche, mich zu entscheiden, was ich für meinen Tag am Strand anziehen soll. Ich weiß nicht, ob mir noch kalt sein wird, wenn ich erst eine Weile geritten bin, und ob ich wie ein Mädchen gekleidet dort auftauchen will, wenn vermutlich Joseph Beringer da sein wird, um mir gespielt anzügliche Blicke zuzuwerfen.
    Vor allem aber versuche ich, keine allzu dramatischen Dinge zu denken wie: An diesen Tag wirst du dich für den Rest deines Lebens erinnern.
    Am Ende ziehe ich einfach dasselbe an wie immer – meine braune Hose, die nicht scheuert, und den dicken dunkelgrünen Wollpullover, den Mums Mutter für sie gestrickt hat. Ich denke gerne daran, wie Mum ihn getragen hat, denn das verleiht ihm eine gewisse Bedeutsamkeit. Ich betrachte mich in meinem fleckigen Spiegel und ziehe unter meinen Sommersprossen ein grimmiges Gesicht, die Brauen über meinen blauen Augen dicht zusammengezogen. Ich wirke zerzaust und schlecht gelaunt. Ich zupfe ein paar Haarsträhnen aus meinem Pferdeschwanz und streiche sie mir über die Stirn, in dem Versuch, jemand anderes zu sein als das Mädchen, das hier

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