Rot wie das Meer
nur kurz über das Gefühl nachzudenken, das seine Worte in mir auslösen.
»Nicht immer«, erwidert Finn. »Nur heute. Am ersten Tag.«
Einen Moment lang wäge ich das Bild der einsamen, stolzen Kämpferin, als die ich allein am Strand auftauchen wollte, gegen die wesentlich wahrscheinlichere Vorstellung ab, mir zunächst das Geschehen gemeinsam mit einem meiner Brüder vom Rand aus anzusehen, um einen Eindruck zu bekommen. »Na gut. Das wäre schön.«
Finn holt seine Mütze. Ich hole meine. Beide habe ich selbst gestrickt und meine hat ein Muster aus Weiß und zwei verschiedenen Brauntönen. Finns ist rot und weiß. Sie sind etwas unförmig, aber sie passen.
Mit unseren Mützen auf dem Kopf stehen wir in unserer unordentlichen Küche. Für einen Augenblick sehe ich den Raum so, wie er auf einen Fremden wirken muss. Alles um Finn herum sieht aus, als wäre es frisch aus dem Küchenabfluss gekrochen. Es ist ein erbärmlicher Anblick, wir sind erbärmlich. Kein Wunder, dass Gabe hier wegwill.
»Gehen wir«, sage ich.
6
Sean An diesem ersten Tag bestellt Gorry mich vor allen anderen an den Strand, um mir eine gescheckte Stute zu präsentieren, die er offenbar vor nicht allzu langer Zeit aus dem Ozean gezogen hat. Er ist sich so sicher, dass ich sie für Malvern kaufen will, dass er ihren Preis so hoch angesetzt hat wie für zwei Pferde auf einmal. Unter dem dunkelblauen Morgenhimmel stehe ich da, während die Flut sich noch vom Land zurückzieht, meine Fingerspitzen eiskalt in den fingerlosen Handschuhen, und sehe zu, wie er sie vor mir auf und ab führt. Ihre Hufabdrücke sind die ersten am Strand; das Wasser hat den Sand sauber gewischt und alle Spuren von Mutts stümperhaften Jagdversuchen in der vergangenen Nacht entfernt.
Sie ist atemberaubend. Wasserpferde gibt es in allen Farben, die man auch von ihren Verwandten an Land kennt, aber wie bei den Landpferden sind die meisten Braune oder Füchse. Weniger häufig sind Falben oder Palominos, Rappen oder Schimmel. Schecken wie sie – zu gleichen Teilen schwarz und weiß, scharf gezeichnete weiße Wolken auf schwarzem Grund – findet man unter den Wasserpferden dagegen nur sehr selten. Aber durch seine schöne Farbe hat noch kein Pferd ein Rennen gewonnen.
Die Scheckstute bewegt sich nicht übel. Sie hat eine gute Schulter, aber das ist nichts Besonderes für ein Capaill Uisce. Unbeeindruckt sehe ich zu den schwarzen Kormoranen auf, die über unseren Köpfen am Himmel kreisen. Ihre Silhouetten sehen aus wie die kleiner Drachen.
Gorry führt die Stute zu mir. Ich ziehe mich auf ihren Rücken und blicke zu Gorry hinunter. »Sie ist das schnellste Capaill Uisce, auf dem du je sitzen wirst«, informiert er mich mit seiner Reibeisenstimme.
Corr ist das schnellste Capaill Uisce, auf dem ich je gesessen habe.
Die Stute unter mir riecht nach Kupfer und verrottetem Seetang. Aus dem Auge, das mir zugewandt ist, trieft Meerwasser. Sie fühlt sich nicht gut unter mir an – schlüpfrig und schwer zu halten –, aber ich bin schließlich auch an Corr gewöhnt.
»Dreh eine Runde mit ihr«, sagt Gorry. »Und dann sag mir, ob dir jemals was Schnelleres untergekommen ist.«
Ich lasse sie traben; mit angelegten Ohren tänzelt sie über den festen Sand auf das Wasser zu. Ich schüttele meine Eisenstücke aus dem Ärmel und fahre damit gegen den Uhrzeigersinn um einen herzförmigen schwarzen Fleck direkt auf ihrem Widerrist. Sie erschaudert und versucht, sich meiner Berührung zu entziehen. Die wenig pferdegleiche Art, wie sie den Kopf schräg hält, und ihre ununterbrochen angelegten Ohren gefallen mir gar nicht. Man darf keinem dieser Pferde trauen. Aber diesem hier traue ich noch weniger als den meisten anderen.
Gorry drängt mich, mit ihr zu galoppieren. Mir selbst einen Eindruck von ihrer Schnelligkeit zu verschaffen. Ich habe meine Zweifel daran, dass sie im Galopp irgendetwas von dem Gefühl wettmachen kann, das sie mir beim Traben vermittelt. Aber ich lockere die Zügel und drücke ihr die Fersen in die Seiten.
Sie jagt über den Strand wie ein Greifvogel, der nach einem Fisch taucht. Unfassbar schnell. Doch die ganze Zeit giert sie nach dem Wasser, driftet unaufhaltsam aufs Meer zu. Dann wieder dieses schlüpfrige Zappeln. Mir erscheint sie weniger wie ein Pferd als wie ein Meereswesen, selbst jetzt, mitten im Oktober, an Land. Selbst mit meinem Flüstern in ihren Ohren.
Aber schnell ist sie. Ihre Sprünge scheinen den Sand regelrecht zu verschlingen und nach
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