Rot wie das Meer
schon, genau so ist es.«
»Meinetwegen mache ich mir keine Sorgen«, erwidere ich.
»Hmm«, sagt er.
»Kommen Sie mir nicht mit so einem ›Hmm‹, Mr Holly. Sie können hier nicht einfach reinspazieren, mit Ihrer roten Mütze und diesen Schuhen, und den weisen Mann spielen.«
»Sagt der Mann, der überhaupt keine Schuhe trägt«, entgegnet Holly. Er steht auf und macht einen einzigen Schritt, der ihn bis vor meinen Herd bringt. »Wie können Sie hier leben, Sean? Wie schaffen Sie es, sich hier auch nur eine Tasse Tee zu machen, ohne sich Ihr bestes Stück zu verbrennen? Wenn Sie sich in Ihrem Bett auf die andere Seite drehen, landen Sie im Waschbecken. Sie müssen jeden Morgen im Bett frühstücken, weil für alles andere einfach kein Platz ist.«
»Es ist in Ordnung.«
»Hmm«, sagt Holly wieder. ›In Ordnung‹ ist ein weiter Begriff. Wenn Sie heute gewinnen, kehren Sie dann einfach hierher zurück, in genau dieses Leben?«
»Das Haus meines Vaters steht nur eine Stunde Fußweg von hier entfernt, auf den Klippen im Nordwesten. Wenn ich wohnen könnte, wo ich wollte, wäre es dort.« Ich weiß kaum mehr, wie es war, in dem Haus zu leben, aber ich bin schon oft daran vorbeigeritten. An das Innere des Hauses erinnere ich mich nur bruchstückhaft: ich im Bett, ich am Fenster, meine Mutter in einem Sessel. Mittlerweile ist es ziemlich heruntergekommen. Es gehört noch immer mir, aber es ist zu weit außerhalb, als dass ich dort wohnen könnte, solange ich für Malvern arbeite.
»Dann könnten Sie dort also die Zuchtstute unterstellen, die ich gerade gekauft habe, bis sie ein hübsches rotes Fohlen von Ihrem Hengst bekommt?«
Ich greife nach meinen Socken, die auf der Heizung hängen, und
dann nach den Stiefeln davor. »Ich habe nie gesagt, dass ich vorhabe, einen eigenen Hof zu führen.«
»Das mussten Sie auch gar nicht. Wenn ich nächstes Jahr wieder herkomme, werden Sie einen schönen kleinen Stall vor dem Fenster und Puck Connolly in Ihrem Bett haben und dann werde ich meine Pferde bei Ihnen kaufen und nicht bei Malvern. Bitte schön, das ist Ihre Zukunft.«
»Mit Ihrem Akzent klingt die Zukunft wesentlich rosiger, als sie ist.« Ich seufze und greife nach meiner Jacke.
»Wo wollen Sie denn hin? Ich bin noch lange nicht fertig mit meiner Weissagung.«
Ich werfe mir meine Jacke über die Schulter. »Zum Strand. Wie sollen Sie denn Ihr Fohlen bekommen, wenn ich nicht erst mal Corr gewinne?«
59
Puck Ich scheine über Nacht geschrumpft zu sein, während alle anderen auf der Insel gewachsen sind. Sie sind mindestens zwei Meter groß und Männer – und ich bin nur einen Meter groß und ein kleines Kind. Auch Dove ist allenfalls ein Spielzeugpferdchen oder ein Hund, als ich sie durch die Massen von Menschen führe. Die Klippenstraße ist bereits völlig überlaufen; die ersten Rennen haben schon vor Stunden begonnen und die meisten Reiter in den kurzen Wettkämpfen unten am Strand haben Fünftelbeteiligungen ausgehandelt. Ich höre die Zuschauer auf der Klippe fluchen und lachen. Der Wind zerrt an uns allen.
Ich werfe einen kritischen Blick zu den Wolken hinauf, aber es sind harmlose Wolken, die den Himmel nur vorübergehend verdunkeln und nicht den ganzen Tag bleiben. Ich bin erleichtert; ich hatte Angst, das Wetter könnte genauso schlimm sein wie vor zwei Tagen, als wir Tommy Falk tot am Strand gefunden haben. Es ist kalt, aber wir haben November. Mit Kälte habe ich gerechnet.
Alle starren mich an und ich höre ständig meinen Namen oder vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Irgendjemand spuckt auf Doves Hufe oder vielleicht auch auf meine Stiefel. Ich höre Rufe in breiten Festlandakzenten und Kommentare über meine Erziehung in der knappen Mundart von Thisby. Eigenartigerweise fühle ich mich, als sei ich hier die Fremde, die Touristin, die eine Insel besucht, auf der sie keine Freunde hat. Alle wollen Dove anfassen und sie ist nervös und unsicher. Einmal hebt sie den Kopf und wiehert schrill, aber auf dieser Seite der Insel ist niemand, der ihr antworten könnte. Weit
unten am Strand erwidert ein Capaill Uisce ihren Ruf. Dove zittert und zieht an ihrem Führstrick; sie schleift mich ein gutes Stück Weg mit in den Boden gestemmten Fersen mit, bis ich sie wieder unter Kontrolle bekomme.
Ich höre Gelächter und jemand fragt, ob ich vielleicht Hilfe brauche, aber nicht freundlich. Ich knurre: »Es hätte mir geholfen, wenn deine Mutter neun Monate vor deiner Geburt mal ein bisschen
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