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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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dunkle Gestalt. Bei jeder Welle, die an den Strand rollt, stiebt weiße Gischt unter den Hufen des Pferdes auf.
    Der Anblick des Pferdes, in gestrecktem Galopp, atemberaubend schnell, ist so schön, dass mir Tränen in die Augen treten.
    »Das da sieht aus, als hätte irgendwer aus zwei Pferden ein neues gebastelt«, sagt Finn.
    Seine Bemerkung lenkt meinen Blick von dem Roten in Richtung der Klippen, dorthin, wo der Pfad auf den Strand trifft.
    »Das nennt man einen Schecken«, erkläre ich. Die Stute, auf die er deutet, ist schneeweiß mit großen schwarzen Flecken. Etwa auf Höhe des Widerrists hat sie einen kleineren schwarzen Klecks in Form eines blutenden Herzens. Ein zwergenhaft winziger Mann mit einer Melone auf dem Kopf führt die Stute ein Stück abseits von den anderen.
    »›Das nennt man einen Schecken‹«, äfft Finn mich nach. Ich versetze ihm einen Stoß und sehe zurück zum Wasser, dorthin, wo der Fuchs und sein Reiter gewesen sind, aber sie sind verschwunden.
    Ich verspüre eine seltsame Enttäuschung. »Los, gehen wir runter«, sage ich.
    »Ist eigentlich heute jeder da unten?«, fragt Finn.
    »Sieht ganz so aus.«
    »Wie willst du denn an ein Pferd kommen?«
    Darauf habe ich keine Antwort, weswegen seine Frage mich ziemlich irritiert. Noch mehr irritiert mich allerdings die Tatsache, dass wir beide in genau der gleichen Haltung dastehen, ich also genau so stehe wie mein Bruder oder er genau so wie ich. Ich nehme die Hände aus den Taschen und fauche ihn an: »Soll das ein Quiz werden, oder was? Hast du vielleicht vor, mich den ganzen Tag mit Fragen zu löchern?«
    Finn verzieht das Gesicht, bis sein Mund und seine Augenbrauen parallele Linien bilden. Den Ausdruck beherrscht er ziemlich gut, obwohl mir bis heute nicht klar ist, was er zu bedeuten hat. Als er noch kleiner war, hat Mum ihn wegen dieses Gesichtsausdrucks immer ihren kleinen Frosch genannt. Heute, wo er sich sogar schon manchmal rasieren muss, erinnert er nicht mehr so sehr an eine Amphibie.
    Trotzdem zieht er nun sein Froschgesicht, bevor er den Pfad hinunterhuscht und in der Menge verschwindet. Einen Moment lang überlege ich, ob ich ihm folgen soll, dann aber lässt mich ein schrilles Kreischen auf der Stelle erstarren.
    Es ist die gescheckte Stute. Sie steht ein wenig abseits und blickt entweder zurück zu den anderen oder zum Meer. Ihr Kopf ist zurückgelegt, aber sie wiehert nicht. Sie schreit.
    Ihr Heulen schneidet durch den Wind, das Rauschen der Wellen, das geschäftige Treiben am Strand. Es ist der Schrei eines urzeitlichen Raubtiers, der kein bisschen mehr an einen Laut erinnert, den ein normales Pferd von sich geben würde.
    Er lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
    Und ich kann nur noch eins denken: War dies das Letzte, was meine Eltern gehört haben?
    Wenn ich nicht sofort an den Strand komme, verliere ich die Nerven. Das weiß ich einfach. Ich kann es spüren. Meine Glieder fühlen sich an wie Seetang, so glibberig, dass ich mir beinahe den Knöchel verstauche, als ich in eine der Kuhlen trete, die die Hufe hinterlassen haben. Ich bin erleichtert, als die gescheckte Stute endlich aufhört zu schreien, doch während ich mich den Capaill Uisce langsam nähere, stelle ich beunruhigt fest, dass sie nicht einmal wie normale Pferde riechen. Dove riecht angenehm, nach Heu und Gras und Melasse. Die Capaill Uisce riechen nach Salz, Fleisch, Fisch und Tod.
    Ich versuche, durch den Mund zu atmen und nicht darüber nachzudenken. Hunde wuseln mir um die Beine und niemand achtet darauf, wohin er läuft. Pferde bäumen sich auf und unzählige Händler versuchen, den Reitern Versicherungen und Schutzkleidung anzudrehen. Alle zusammen wirken sie überreizter als ein Haufen Terrier in einer Fleischerei. Ich bin froh, dass Finn sich abgesetzt hat, denn allein der Gedanke daran, dass er mich so verstört sehen könnte, erscheint mir unerträglich.
    Die Wahrheit ist, ich habe zwar eine vage Vorstellung davon, wie man sich auch ohne viel Geld ein Pferd für das Rennen beschaffen kann, aber die beschränkt sich auf das, was ich in der Schule aufgeschnappt habe, wenn die Jungen damit prahlten, dass sie später, wenn sie älter wären, bei dem Rennen mitreiten würden. Dazu ist es nie gekommen; die meisten von ihnen sind irgendwann aufs Festland übergesiedelt oder Bauern geworden, aber ihre ehrgeizigen Pläne waren eine gute Informationsquelle. Besonders weil meine Familie zu den wenigen gehörte, die sich nie für das Rennen

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