Rot wie das Meer
interessiert haben.
»Mädchen!«, knurrt mich ein Mann an, die Hand am Halfter eines scharrenden, sich aufbäumenden Rotschimmels. »Pass verdammt noch mal auf, wo du hinläufst.«
Ich sehe auf den Boden und brauche eine Sekunde zu lange, um zu begreifen, dass dort ein Kreis in den Sand gezogen ist und ich ihn mit beiden Stiefeln durchbrochen habe. Ich mache einen Satz aus dem Kreis heraus.
»Das kannst du dir sparen«, ruft der Mann, als ich die Linie nachziehen will. Der Rotschimmel drängt auf die Öffnung im Kreis zu. Erschrocken weiche ich zurück und werde schon wieder angeschrien – zwei Männer tragen einen älteren Jungen zwischen sich. Er blutet aus einer Kopfwunde und brummt mir eine Verwünschung zu. Ich wirbele herum und stolpere beinahe über einen verwahrlosten Hund mit sandigem Fell.
»Verdammtes Mistvieh!«, fauche ich ihn an, bloß weil ich weiß, dass er nicht antworten kann.
»Puck Connolly!« Das ist Tommy Falk mit seinem hübschen Mund. »Was machst du denn hier unten?« Zumindest glaube ich, dass er das fragt. Es ist so laut hier, dass seine Worte fast im Lärm der anderen Stimmen untergehen, bevor der Wind den Rest erledigt.
»Ich suche nach Männern mit Melonen«, erwidere ich. Die schwarzen Hüte sind ein typisches Erkennungszeichen der Pferdehändler – bei uns auf der Insel wird jemand, der so einen Hut trägt, in Anspielung auf dieses Gewerbe Rosstäuscher genannt und das ist keine schmeichelhafte Bezeichnung. Junge Männer tragen manchmal Melonen, wenn sie besonders draufgängerisch wirken wollen. Meistens ist das aber einfach ein Zeichen dafür, dass sie Mistkerle sind.
Tommy schreit zurück: »Ich glaub, ich hab dich nicht richtig verstanden.«
Aber ich weiß, dass er mich sehr wohl verstanden hat. Er will nur nicht glauben, was er gehört hat. Dad hat immer gesagt, dass das menschliche Gehirn sich gern schwerhörig stellt. Aber im Moment interessiert es mich nicht sonderlich, ob Tommy taub oder schwer von Begriff ist, denn ich habe soeben eine Melone gesichtet, und zwar auf dem Kopf des zwergenhaften Mannes, der kurz zuvor die gescheckte Stute über den Strand geführt hat.
»Danke«, sage ich zu Tommy, obwohl er mir gar nicht weitergeholfen hat. Ich lasse ihn stehen und bahne mir einen Weg durch die Menge in Richtung des Zwergs. Aus der Nähe wirkt er nicht mehr so klein, dafür aber so, als hätte ihm in der Vergangenheit mal jemand einen Backstein ins Gesicht geschlagen, zweimal, um es zu Brei zu hauen, und dann noch einmal, der Vollständigkeit halber.
Er ist in einen Streit vertieft.
»Sean Kendrick«, grollt er, ein Name, der mir aus irgendeinem Grund bekannt vorkommt, besonders in Verbindung mit diesem verächtlichen Ton. Der Zwerg mit der Melone hat alles andere als eine Zwergenstimme. Sie klingt nach Zigarettenqualm und er beginnt jedes Wort mit einem kehligen H. »Ha! Hat doch nur Salzwasser im Kopf, der Kerl. Was verzapft der über meine Pferde?«
»Das möchte ich lieber nicht wiederholen«, erwidert der andere Mann höflich. Es ist Dr. Halsal. Das glänzend schwarze Haar trägt er säuberlich auf einer Seite gescheitelt. Ich mag Dr. Halsal. Er ist ein vernünftiger, geradliniger Mann und so adrett, dass er mich schon immer mehr an ein Gemälde erinnert hat als an einen echten Menschen. Als ich sechs Jahre alt war, wollte ich ihn unbedingt heiraten.
»Der ist doch so verrückt wie die See bei Sturmflut«, sagt der Händler. »Kommen Sie, wenn Sie sie einmal geritten haben, wollen Sie nicht mehr runter.«
»Das kann gut sein«, entgegnet Dr. Halsal, »aber ich fürchte, ich muss trotzdem passen.«
»Sie ist so schnell wie der Teufel«, beharrt der Zwerg, aber der Doktor hat sich bereits abgewandt und sein Rücken spricht eine deutliche Sprache.
»Entschuldigen Sie«, sage ich und meine Stimme kommt mir schrecklich hoch vor. Der Zwerg dreht sich zu mir um. Sein ramponiertes Gesicht wirkt ziemlich furchteinflößend, vor allem, wenn wie jetzt auch noch ein gereizter Ausdruck hinzukommt. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen und zu einer ernst zu nehmenden Frage zu formen. »Machen Sie auch Fünftel?«
Die Fünftel sind ein Teil dessen, was ich von den tagträumenden Jungs in der Schule aufgeschnappt habe. Das Ganze ist mehr oder weniger ein Glücksspiel. Manchmal lässt ein Händler einen ein Pferd umsonst reiten, unter der Bedingung, dass er am Ende vier Fünftel von der Gewinnsumme bekommt, wie hoch auch immer sie ausfällt. Meistens ist das nicht viel,
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