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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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dem Zopf und klatschen mir ins Gesicht, winzige Hiebe von winzigen Peitschen. Dove buckelt, dann noch einmal, aus schierer Freude am Galoppieren, und ich lache über ihren Übermut. Schließlich drehen wir um.
    Kurz glaube ich, ganz oben auf der Klippe jemanden stehen zu sehen, der uns beobachtet, doch als ich ein zweites Mal hinsehe, ist dort niemand.
    Ich denke über unsere heutige Leistung nach. Dove ist außer Atem, ich bin außer Atem und das Meer weicht zurück. Die anderen Reiter
    sind noch nicht mal am Strand und wir sind schon fertig mit unserem Training.
    So könnte es funktionieren.
    Ich weiß nicht, wie schnell wir waren, aber das ist im Moment nicht wichtig. Ein Schritt nach dem anderen.

22
    Sean Das Obergeschoss des Teehauses ist um diese Tageszeit verlassen. Ich bin allein mit einer Schar kleiner Tische, auf denen Spitzendeckchen liegen und Vasen mit jeweils einer purpurfarbenen Distel darin stehen. Der Raum ist lang und schmal, die Decke niedrig; man fühlt sich wie in einem besonders schön zurechtgemachten Sarg oder einem erdrückend engen Kirchenschiff. Die rosafarbenen Vorhänge hinter mir tauchen alles in zartes Pastell. Ich bin das Dunkelste in diesem Raum.
    Evelyn Carrick, die junge Tochter des Besitzers, steht an meinem Tisch und fragt nach meiner Bestellung. Sie blickt mich nicht direkt an, was in Ordnung ist, weil ich sie auch nicht ansehe. Ich starre auf die kleine gedruckte Karte vor mir auf der Tischdecke.
    Ein paar Wörter auf der Karte sind französisch. Die englischen Einträge sind lang und kompliziert. Selbst wenn ich Tee bestellen wollte, bin ich nicht sicher, ob ich ihn als solchen erkennen würde.
    »Ich warte noch«, sage ich schließlich.
    Sie zögert. Ihr Blick flackert kurz zu mir und dann wieder weg, wie bei einem Pferd, das einen unbekannten Gegenstand beäugt. »Darf ich Ihre Jacke nehmen?«
    »Ich behalte sie hier.« Mittlerweile ist meine Jacke trocken, aber steif vor Salz und voller Matsch- und Blutspritzer. Jeder einzelne Tag am Strand hat darauf seine Spuren hinterlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihre kleinen weißen Hände sie berühren.
    Evelyn stellt irgendwas Kompliziertes, aber bestimmt Sinnvolles mit der Serviette und der Untertasse auf der anderen Seite meines
    Tisches an und huscht dann die enge Treppe hinunter. Ich lausche dem Knarzen ihrer Schritte; jede einzelne Stufe knackt und ächzt. Das hohe, schmale Teehaus, eines der ältesten Gebäude in Skarmouth, steht gedrängt zwischen dem Lebensmittelladen und dem Postamt. Ich frage mich, zu was es gedient haben mag, bevor man dort Petit Pain essen konnte.
    Malvern kommt zu spät zu unserem Treffen, dessen Termin er selbst festgelegt hat und mit dem ich zuvor schon gerechnet hatte, wenn auch nicht unbedingt an diesem Ort. Ich drehe mich um und werfe einen Blick zwischen den rosa Vorhängen hindurch, hinunter auf die Straße. Schon jetzt treiben sich dort vereinzelte Touristen herum, die für das Skorpio-Fest gekommen sind und neugierig den Hals recken, und ein paar Straßen weiter höre ich schon die Trommler proben. In ein paar Tagen wird dieses Teehaus wahrscheinlich zum Bersten voll sein, genauso wie die Straßen. Am Ende des Fests werden die anderen Reiter und ich eine Parade durch die Menge laufen. Wenn ich bis dahin meinen Job noch habe.
    Ich ziehe meinen Ärmel hoch, um mein Handgelenk zu betrachten; die steife Jacke hat während des Trainings am Morgen meine Haut aufgescheuert. Heute ist zwischen ein paar Pferden ein Streit ausgebrochen und ich musste dazwischengehen. Ich wünschte, Gorry würde endlich seine Versuche aufgeben, diese Scheckstute an den Mann zu bringen; sie hat einen schlechten Einfluss auf die anderen.
    Die Stufen knacken und knurren, als jemand Schwereres als Evelyn die Treppe heraufkommt. Benjamin Malvern durchquert den Raum und bleibt neben meinem Tisch stehen, bis ich aufstehe, um ihn zu begrüßen. Malvern, der sein Leben lang wohlhabend gewesen ist, fällt durch eine Art kultivierte Hässlichkeit auf, wie ein teures Rennpferd mit einem grobschlächtigen Kopf. Der schicke Mantel, die leuchtenden Augen, die Knollennase über zu wulstigen Lippen.
    »Sean Kendrick«, sagt er. »Wie geht es Ihnen?«
    »Einigermaßen«, gebe ich zurück.
    »Und wie geht's dem Meer?« Dies ist die Stelle, an der er einen
    Witz macht, um sein Wohlwollen zu demonstrieren, und ich so tue, als wäre er lustig, um zu zeigen, wie dankbar ich für mein Gehalt bin.
    Ich lächele dünn. »Gut, wie

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