Rot wie das Meer
immer.«
»Setzen wir uns doch.«
Ich warte, bis er Platz genommen hat, und folge dann seinem Beispiel. Er nimmt die Karte, jedoch ohne sie zu lesen. »Bereit für das große Fest am Wochenende?«
Wieder knarren die Stufen und Evelyn erscheint. Sie stellt eine Tasse mit einer schaumigen Flüssigkeit vor Malvern auf den Tisch.
»Was darf's sein?«, fragt sie mich wieder.
»Nichts, danke.«
»Lassen Sie nicht zu, dass er Ihre Gastfreundschaft mit Füßen tritt«, sagt Malvern zu ihr. »Bringen Sie ihm eine Tasse Tee.«
Ich nicke Evelyn zu. Malvern scheint gar nicht zu bemerken, dass sie wieder geht.
»Kein Grund, es sich nicht ein bisschen gemütlich zu machen, wenn es ungemütliche Angelegenheiten zu besprechen gibt«, erklärt Malvern. Er nimmt einen Schluck von seinem seltsam schaumigen Tee.
Ich sitze reglos und schweigend da.
»Sie sind wahrlich kein Mann vieler Worte«, bemerkt Malvern. Draußen vor dem Fenster üben die Skorpio-Trommler einen fließenden, anschwellenden Rhythmus, der so gar nicht zu der weichen rosafarbenen Welt zu passen scheint, in der wir uns befinden. Malvern stemmt die Ellbogen auf den Tisch und beugt sich vor. »Ich habe Ihnen nie erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass ich mit Pferden arbeite, oder?«
Ich sehe ihm in die Augen.
Er redet weiter. »Ich war jung, arm, lebte auf einer Insel, aber nicht auf dieser. Ich hatte nichts als die Schuhe an meinen Füßen und die blauen Flecken auf meinem Körper. In unserer Straße gab es einen Mann, der Pferde verkaufte. Stolze Rösser und alte Klepper, Springpferde und Schlachtvieh. Einmal im Monat gab es eine Auktion und
die Leute kamen von weiter her, als Sie je in Ihrem Leben gewesen sind, um seine Tiere zu begutachten.«
Er hält inne, um zu sehen, ob ich es bedaure, so stark auf dieser Insel verwurzelt zu sein. Als er nicht findet, wonach er sucht, redet er weiter. »Eines Tages bekam er einen Hengst herein, mit so goldenem Fell, als hätte Midas selbst ihn berührt. Eine Schulterhöhe von eins siebzig, eins achtzig, Mähne und Schweif wie ein Löwe. Der Inbegriff eines Pferdes, wie er da so auf dem Hof stand, aber es gab ein Problem: Niemand konnte ihn zureiten. Vier Männer hatte er schon abgeworfen, einen sogar getötet; er verschlang vier bis acht Heuballen pro Tag und für so einen unreitbaren Mörderhengst interessierte sich bei der Auktion natürlich niemand. Also ging ich zu dem Mann und bot ihm an, das Pferd zuzureiten, wenn er mir dafür Arbeit geben würde und ich nie mehr arm sein müsste. Der Pferdehändler antwortete, er könne mir zwar nicht versprechen, dass ich nie mehr arm sein würde, aber wenn ich Erfolg hätte, würde er mir bis ans Ende seines Lebens Arbeit geben. Also ging ich zu dem goldenen Hengst und zäumte ihn auf. Ich schnitt eine Augenbinde aus dem Kleid einer Jungfrau und band sie ihm um. Dann stieg ich auf. Wir galoppierten durch die Felder, er blind und ich ein König, und als ich ihn zurückbrachte, war er zahm und ich hatte einen Job. Was halten Sie davon?«
Ich sehe Malvern an. Er hebt seinen sonderbaren Tee an die Lippen. Ich kann die Butter darin bis hier riechen.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sage ich schlicht. Als Malvern eine Augenbraue hebt, füge ich hinzu: »Sie waren niemals jung.«
»Und ich dachte immer, Sie hätten keinen Sinn für Humor, Mr Ken-drick.« Er hält inne, als Evelyn meinen Tee vor mir auf den Tisch stellt. Sie bietet mir Milch und Zucker an, aber ich schüttele den Kopf. Malvern wartet, bis sie die Treppe hinuntergegangen ist, bevor er wieder etwas sagt.
Er deckt sorgfältig eine Serviette über seine leere Teetasse, als wäre sie eine Leiche. »Mein Sohn behauptet, Sie hätten eins meiner Pferde getötet.«
Wut flammt in meinem Mund, meiner Brust auf, als hätte mich eine glühende Hand berührt.
»Sie wirken nicht überrascht«, stellt Malvern fest.
»Ich bin nicht überrascht«, bestätige ich.
Die Skorpio-Trommler draußen sind jetzt näher, lauter, und unter ihr Spiel mischt sich Gelächter. Irgendjemand gibt ein leises, abfälliges Kichern von sich, wie über einen Witz, der nur für Eingeweihte bestimmt ist und alle anderen die Stirn runzeln lässt. Malverns Brauen senken sich bis kurz über seine Augen und er legt den Kopf schräg, so als stehe ihm die Szene draußen auf der Straße klarer vor Augen als mein Gesicht. Die Trommeln ahmen jetzt den Hufschlag von Pferden nach und ich frage mich, ob Malvern wohl den goldenen Hengst, groß wie ein Haus, vor
Weitere Kostenlose Bücher