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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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bin nicht einmal sicher, ob er überhaupt nach Hause gekommen ist. Beinahe bin ich dankbar für den dunklen, tückisch steilen Pfad zum Strand, der meine Gedanken davon abhält, zu lange bei der Frage zu verharren, was seine Abwesenheit für uns bedeutet.
    Als wir den Fuß der Klippen erreichen, muss ich Dove besonders vorsichtig führen, um sie nicht vor einen der Felsbrocken laufen zu lassen, die an der Flutlinie auf dem Strand verstreut liegen. Das wenige Licht erhellt Doves Atem, verwandelt ihn in weiße, fast greifbare Wölkchen. Es ist so dunkel, dass ich die See mehr höre, als dass ich sie sehe. Schhhhh, schhhhh, murmelt sie, als wäre sie meine Mutter und ich ein quengeliges Kind, doch bevor die See meine Mutter ist, bleibe ich lieber Waisenkind.
    Dove ist nun hellwach, die Augen auf das Wasser gerichtet, das immer noch ein bisschen zu hoch steht, um vernünftig trainieren zu können. Wenn die Morgendämmerung einsetzt, wird das Meer widerstrebend ein paar Dutzend Meter festen Sand freigeben, auf dem die Reiter die Pferde laufen lassen können, ohne dem Ozean zu nahe
    zu kommen. Im Augenblick aber ist die Brandung wild und nah und drängt mich an die Felswand.
    Mein Mut ist wie weggeblasen.
    Es ist Flut, stockdunkel, der Himmel so finster wie immer, wenn es auf November zugeht – und im Meer um Thisby wimmelt es nur so von Capaill Uisce. Ich weiß, dass Dove und ich an diesem Strand schrecklich ungeschützt sind. Jeden Moment könnte ein Wasserpferd durch die Wellen brechen.
    Mein Herz pocht dumpf in meinen Ohren. Schhhhh, schhhhh, murmelt die See, aber ich glaube ihr nicht. Ich stelle meine Steigbügel kürzer. Dove lässt die Wellen nicht aus den Augen. Ich steige nicht auf. Ich spitze die Ohren und lausche auf Anzeichen von Leben. Nichts als das Meer. Plötzlich blitzt etwas zwischen den Wogen auf wie ein hämisches Grinsen. Es könnte der gekrümmte Rücken eines Capaill Uisce sein.
    Aber Dove würde es spüren. Ich muss ihr vertrauen. Ihre Ohren sind noch immer aufgestellt. Sie ist wachsam, aber nicht misstrauisch. Ich drücke ihr einen Kuss auf die staubige Schulter, um uns beiden Glück zu wünschen, und steige auf. Ich lenke sie, so weit es nur geht, von der schäumenden Brandung weg. Zu weit oben ist alles voller Kieselsteine und Felsbrocken, auf denen man unmöglich reiten kann. Zu weit unten: Schhhhh, schhhhh.
    Zum Aufwärmen lasse ich Dove locker auf und ab traben. Ich warte darauf, dass mein Körper sich entspannt, dass ich vergesse, wer ich bin, aber es funktioniert nicht. Jede Spiegelung im Wasser lässt mich zusammenschrecken. Jede Faser meines Körpers scheint zu schreien angesichts der Gefahr, die von dem schwarzen Meer ausgeht. Ich muss an die Geschichte denken, die uns allen erzählt wird, sobald wir ins Teenageralter kommen, über zwei verliebte Jugendliche, die sich verbotenerweise am Strand getroffen haben und von einem lauernden Wasserpferd ins Meer gezerrt wurden. Sie gilt als gute Abschreckung für die Jugend von Skarmouth: Das würde uns schon lehren, heimlich rumzuknutschen.
    Doch die Geschichte wirkte nie sonderlich real, wenn man sie in einem Klassenzimmer oder über eine Ladentheke hinweg erzählt bekam. Hier am Strand jedoch ist sie wie ein finsteres Versprechen. Aber es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ich muss meine Zeit nutzen, so gut es geht. Ich versuche mir vorzustellen, dass wir einfach nur über eine matschige Wiese reiten. Endlose Minuten lang trainieren Dove und ich auf diese Weise, traben in die eine Richtung und dann in die andere, wechseln in einen ruhigen Galopp, in die eine Richtung, dann in die andere. Zwischendurch halte ich Dove immer wieder an, um zu lauschen. Um die Dunkelheit nach irgendetwas noch Dunklerem abzusuchen. Dove wird langsam ruhiger, aber ich kann nicht aufhören zu zittern. Vor Kälte und immer noch vor Angst.
    Weit hinten am Horizont zeigt sich ein fahler Vorbote der Dämmerung. Bald werden die anderen hier sein.
    Ich halte Dove an und lausche. Nichts. Nur schhhhh, schhhhh.
    Ich warte einen langen, langen Augenblick ab. Nur das Meer.
    Dann treibe ich sie in einen gestreckten Galopp.
    Dove prescht begeistert los und lässt vor Freude ihren Schweif peitschen. Die Wellen neben uns verschwimmen zu einem dunklen Streifen und die Klippen verwandeln sich in eine Mauer aus formlosem Grau. Das Rauschen des Ozeans ist verschwunden, ich höre nur noch das rhythmische Donnern von Doves Hufen, ihren schnaubenden Atem.
    Meine Haare lösen sich aus

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