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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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wurde, wie eine schwarze Narbe oder ein Reißverschluss von den blassen Brauntönen und den grünen Hügeln ringsum abhob. Jetzt sind der Asphalt und die weißen Linien darauf ausgeblichen, sodass die Straße fast wie ein natürlicher Bestandteil der kargen, kantigen Landschaft wirkt. Im Dunkeln ist es fast unmöglich, nicht von der Fahrbahn abzukommen.
    Hinter mir höre ich, wie sich das Geräusch eines Motors aus dem Heulen des Windes löst, und fahre ganz weit links, um den Wagen vorbeizulassen. Doch statt mich zu überholen, hält er an. Es ist Thomas Gratton in seinem großen Schaflaster, ein Bedford, dessen Scheinwerfer und Kühlergrill ihn ein bisschen wie Finn aussehen lassen, wenn er sein Froschgesicht macht.
    »Puck Connolly«, ruft Thomas Gratton durch das offene Fenster, das Gesicht so rot wie eh und je. Jetzt öffnet er auch schon seine Tür und deutet auf mein Fahrrad. »Wo willst du denn damit hin?«
    »Hastoway.«
    Ich bin nicht ganz sicher, wie ich überhaupt vom Fahrrad gekommen bin, als Thomas Gratton es auch schon auf die Ladefläche seines Lasters hebt und sagt: »Da will ich auch hin.«
    Ich erkenne eine günstige Gelegenheit, wenn ich sie sehe, also klettere ich auf den Beifahrersitz, schiebe eine Keksdose, eine Zeitung und einen Border-Collie aus dem Weg und setze mich hin.
    »Na dann«, sagt Thomas Gratton, während er sich mit einem Stöhnen zurück auf den Sitz zieht, als sei das eine riesige Leistung, »nimm dir doch ein paar Kekse. Sonst esse ich die noch alle alleine.«
    Als wir weiterfahren, esse ich einen Keks und verfüttere einen weiteren an den Hund. Ich werfe Thomas Gratton einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob er es bemerkt hat – und wenn ja, ob er etwas dagegen hat –, aber er summt nur vor sich hin und umklammert das Steuer, als könnte es jeden Moment beschließen, die Flucht zu ergreifen. Ich denke daran, wie Peg und er über mich geredet haben, und frage mich plötzlich, ob es eine gute Idee war, zu ihm in den Laster zu steigen.
    Eine Weile fahren wir dahin und genießen die Stille – der Laster rattert, als würde der Motor jeden Moment unter der Haube hervorschießen, also ist »Stille« vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Ich freue mich zu sehen, dass das Innere des Führerhauses mit Hustenbonbonpapier, leeren Milchflaschen und matschbefleckten, schon brüchig gewordenen Zeitungsseiten übersät ist. Bei Ordnung habe ich immer das Gefühl, mich wahnsinnig gut benehmen zu müssen. Unordnung ist mein natürlicher Lebensraum.
    »Wie geht's deinem Bruder?«, fragt Gratton.
    »Welchem?«
    »Dem kleinen Helden mit dem Ponykarren.«
    Ich seufze so tief, dass der Border-Collie mir übers Gesicht leckt, um mich zu trösten. »Ach so, Finn.«
    »Der ist ja ein ganz Eifriger. Meinst du, er hätte Interesse an einer Lehrstelle?«
    Eine Lehrstelle in der Schlachterei wäre wunderbar. Darum bringe ich es kaum über mich zu antworten: »Er kann kein Blut sehen.«
    Thomas Gratton lacht auf. »Dann hat er sich aber die falsche Insel ausgesucht.«
    Ich denke, nicht besonders glücklich, an das tote Schaf in den Hügeln. Und an Finns regelmäßige Besuche bei Palsson. Wenn er irgendwo eine Lehre anfangen könnte, würde er sich bestimmt die Bäckerei aussuchen. Wo er Salz in seine heiße Schokolade geben kann. Sie müssten bloß noch jemanden einstellen, der danach die Küche wieder sauber macht.
    »Sieh an, was haben wir denn da?«, sagt Thomas Gratton. Ich brau-
    che einen Moment, bis ich begreife, was er meint, nämlich eine einsame dunkle Gestalt, die am Straßenrand entlangläuft. Gratton hält den Laster an und kurbelt sein Fenster herunter.
    »Sean Kendrick!«, ruft er und ich zucke zusammen. Es ist tatsächlich Sean Kendrick, die Schultern in der Kälte hochgezogen, den dunklen Kragen gegen den Wind aufgestellt. »Was machst du denn hier, ohne ein Pferd unter dem Hintern?«
    Sean antwortet nicht sofort. Seine Miene verändert sich nicht, aber irgendetwas in seinem Gesicht scheint sich zu regen, so als würde er einen anderen Gang einlegen. »Bloß einen klaren Kopf kriegen.«
    Gratton erwidert: »Und wo willst du hin mit deinem klaren Kopf?«
    »Keine Ahnung. Hastoway.«
    »Dann kannst du im Wagen weitermachen. Wir wollen in dieselbe Richtung.«
    Einen Moment lang kann ich die Ungerechtigkeit kaum fassen. Da wird mir eine Mitfahrgelegenheit angeboten und nun muss ich sie mit Sean teilen. Ausgerechnet mit Sean »Halt-dich-mit-deinem-Pony-vom-Strand-fern« Kendrick. Dann sehe

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