Rot wie das Meer
Sean Kendrick schließlich die Stufen hinaufsteigt. Ich erkenne ihn kaum wieder. Er hat auf beiden Seiten Blut über seine scharfen Wangenknochen verschmiert und wirkt gleichzeitig faszinierend und Furcht einflößend, schroff und heidnisch, wachsam und raubtierhaft. Wie jemand, der schon auf diesen Felsen stand, als es noch Menschenblut war, das auf den Stein tropfte.
Plötzlich frage ich mich, was Pfarrer Mooneyham wohl an diesem Abend macht – ob er sich in die Kirche zurückgezogen hat und betet, dass die Mitglieder seiner Gemeinde bis morgen bei Sinnen bleiben mögen und sich nicht heidnischen Pferdegöttinnen zuwenden. Aber welche Inselgöttin, wenn es denn eine gäbe, würde sich mit einer Schale Tierblut anstelle eines Menschen zufriedengeben? Ich habe schon Schafsblut gesehen und ich habe schon Tote gesehen und ich weiß, dass dazwischen ein großer Unterschied besteht.
Sean Kendrick streckt die Hand aus. »Ich werde reiten«, sagt er, und noch während er spricht, fühle ich mich plötzlich schwer, so als würden meine Füße in den Fels unter mir gezogen.
Peg Gratton ritzt seinen Finger. Sie hat keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Peg Gratton, nicht dort oben im flackernden Licht des Feuers, wo der Schatten des Schnabels ihr Gesicht verbirgt.
Seine Stimme ist kaum zu hören. »Sean Kendrick. Corr. Bei meinem Blute.«
Die Menge beginnt zu jubeln, sogar Elizabeth, von der ich gedacht hätte, dass sie über solcherlei Gefühlsausbrüche erhaben ist, aber Sean blickt kein einziges Mal auf und scheint den Beifall überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ich meine zu sehen, wie sich seine Lippen bewegen, aber nur so leicht, dass ich mir nicht sicher bin. Dann verlässt er den Felsen.
»Du bist dran«, sagt Elizabeth. »Na los, rauf mit dir. Und vergiss nicht, wie du heißt.«
Sosehr ich noch vor einem Augenblick vor Kälte gezittert habe, jetzt ist mir glühend heiß. Mit hoch erhobenem Kinn mache ich mich auf den Weg zu der Stelle, an der ich wie die anderen hinaufklettern kann. Der Felsen scheint weit wie das Meer, als ich ihn überquere und auf Peg Gratton zugehe. Obwohl er ziemlich fest stehen muss, kommt es mir vor, als würde seine Oberfläche bei jedem Schritt unter mir nachgeben und erzittern. Ich sehe Blut in drei verschiedenen Farbnuancen unter meinen Füßen. In Gedanken sage ich mir immer wieder vor: Ich werde reiten. Bei meinem Blute. Ich will nicht, dass ich vor lauter Aufregung alles vergesse.
Jetzt sehe ich Peg Grattons Augen, hell und funkelnd unter dem Vogelkopfschmuck. Sie wirkt grimmig, mächtig.
Ich fühle die Blicke von ganz Skarmouth auf mir, von allen Einwohnern Thisbys und den Massen von Touristen, die das Festland auf die Insel losgelassen hat. Ich stehe so gerade, wie es nur geht. Ich kann genauso grimmig sein wie Peg Gratton, auch wenn ich keinen riesigen Vogelkopf habe, um mich darunter zu verstecken. Ich habe meinen Namen und bis heute war das immer genug.
Langsam strecke ich die Hand aus. Ich überlege kurz, wie sehr ihre kleine Klinge wohl wehtun wird. Meine Stimme ist lauter, als ich erwartet hatte. »Ich werde reiten.«
Peg hebt ihr Messer. Ich beiße die Zähne zusammen. Keiner der anderen vor mir hat auch nur mit der Wimper gezuckt und ich weigere mich, die Erste zu sein.
»Halt!«, ertönt eine Stimme. Es ist nicht Peg Grattons.
Wir wenden beide den Kopf. Am Fuß des Felsens steht Eaton in seiner verschwitzten Nationaltracht, den Kopf in den Nacken gelegt, und blickt zu uns hoch. Eine Gruppe von Männern hat sich um ihn versammelt, die Hände in Hosen- und Jackentaschen vergraben – darunter einige Reiter, die noch immer sorgsam eine ihrer Hände stillhalten, damit die Blutung aufhört. Viele tragen traditionelle Schals wie Eaton. Sie alle starren uns finster an.
Ich habe etwas Falsches gesagt. Ich war noch gar nicht an der Reibe.
Ich habe irgendetwas falsch gemacht. Was immer es gewesen ist, ich weiß es nicht, aber ich spüre, wie die Unsicherheit an meinen Eingeweiden nagt.
Eaton sagt: »Sie darf nicht reiten.«
Mein Herz rutscht eine Etage tiefer. Dove! Es muss an Dove liegen. Ich hätte die gescheckte Stute nehmen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.
»Seit es das Rennen gibt, ist noch nie eine Frau mitgeritten«, fügt er hinzu. »Und das wird sich auch dieses Jahr nicht ändern.«
Ich starre Eaton und die Männer rings um ihn an. Irgendetwas an der Art, wie sie zusammenstehen, vertraut, kameradschaftlich, kommt mir bekannt vor. Wie eine Herde
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