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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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anderen entlassen worden. Er hatte beim Geheimdienst gearbeitet, das wog schwer. Er blieb jahrelang arbeitslos. Die Kommunisten sollten sterben, genauso wie sie selbst unzählige Menschen im Gefängnis hatten sterben lassen. Mit solchen Dingen wird bei uns nicht gescherzt: 1991 brannten wir sogar die Olivenhaine nieder, die man während des Kommunismus gepflanzt hatte. Wir zerstörten Fabriken, Maschinen, Raffinerien, Bergwerke, Schulen und alles, was unter kommunistischer Herrschaft entstanden war. »Tod dem Kommunismus« hatten wir uns geschworen, und wir nahmen es damit sehr genau. Muss man nicht, um zu erschaffen, zunächst zerstören? Alles war von der kommunistischen Ideologie verseucht. Nehmen wir zum Beispiel die Olivenhaine: Hätten wir etwa in aller Seelenruhe eine mit »kommunistischem« Öl zubereitete Bruschetta essen sollen?
    Amerika würde uns von goldenen Löffeln essen lassen. Auch James Baker hatte das versprochen, als er im Herzen der Hauptstadt, umringt von einer nach ein bisschen Westen gierenden Menge, verkündete: »Amerika mit euch, und ihr mit Amerika.« Er selbst schien es zu sein, der nach einem halben Jahrhundert Finsternis endlich ans Licht trat. Der typisch amerikanische Enthusiasmus, den wir später noch Zeit und Gelegenheit bekommen sollten, genauer kennenzulernen.
    Onkel Timo, der beobachtete, was in unserem Land geschah, meinte:
    »Sie sind in Massen über das Meer geflüchtet. Schluss mit dem Regime, Schluss mit dem ruhigen Leben. Sie sind losgezogen, um uns in ganz Europa in Misskredit zu bringen, und haben dabei vergessen, wie oft uns diese alte Hure schon übers Ohr gehauen hat. Sie sind ausgezogen, um den Italienern ihre Klos zu putzen.«
    Der arme Onkel sah verbittert auf die Leute aus Vlora, die irgendwelchen Siebzigerjahre-Zeitschriften entsprungen zu sein schienen. Junge Männer, die gekleidet waren wie die Cugini di Campagna.
    »Sollen wir so Einzug in Europa halten?«, fragte er oft. Aber er sagte auch:
    »Jede Sau lassen sie rein nach Europa, nur wir sollen draußen bleiben. Aber sie werden schon sehen, was sie davon haben. Wenn du darüber nachdenkst, fragst du dich ohnehin: Wozu überhaupt? Um dir von den Belgiern erklären zu lassen, wie man ein Glas Wasser trinkt?«
    Er wusste, dass sich niemand ernsthaft für derart kleine Länder wie unseres interessierte. »Wir sind bloß drei Millionen«, sagte er oft, »viel zu wenig, um das Weltgeschehen zu beeinflussen.«
    »Onkel Timo«, erwiderte ich, »wenn wir noch nicht einmal in der Lage sind, das Geschehen im eigenen Land zu beeinflussen, was haben wir dann in Europa zu suchen?«
    »Mein Kind«, rief er verärgert, »ich weiß, dass du kurz vor Abschluss deines Studiums stehst, aber politische Probleme überlasse lieber mir, denn du hast absolut keine Ahnung davon.«
    Die Dinge liefen nicht immer schlecht für den Onkel. Ein paar Jahre später fasste er wieder Fuß. Nach dem Chaos der »Finanzpyramiden« gewann die sozialistische Partei, und der Onkel bekam erneut eine Anstellung. Sein Auftrag galt dem Hafen von Vlora. Er hatte sich um die mit Cannabis oder illegalen kurdischen und chinesischen Einwanderern beladenen Schiffe zu kümmern.
    Einmal entdeckte er eine Gruppe illegal eingereister Chinesen, die nach Italien weiterwollten. Er behielt sie tagelang im Auge, und als sie schließlich ihr Versteck verließen und auf das Schlauchboot stiegen, alarmierte er die Küstenwache, die in den exterritorialen Gewässern darauf wartete, sie auf frischer Tat zu ertappen. Aber trotz der strengen Patrouillen wurde niemand auf dem Meer gesichtet. Was war mit ihnen geschehen? Waren sie vielleicht gekentert? Unmöglich, das Meer war spiegelglatt, kein Lüftchen wehte. Ein Rätsel. Aber nach ein paar Tagen kam Onkel Timo, der sich viel in den Kneipen der Bootsleute herumtrieb, hinter den Betrug. Die Bootsbetreiber ließen Kurden und Chinesen in die Schlauchboote steigen. Zuvor sammelten sie jedoch das Geld ein (bevor man in ein Schiff oder Flugzeug steigt, muss man schließlich auch erst das Ticket bezahlen, oder?). Aber statt Italien anzusteuern, fuhren sie mit voller Geschwindigkeit die Küste von Vlora hinunter, etwa zwanzig Kilometer weit, bis nach Orikum, dann wieder zurück, ein paar Stunden lang immer hin und her. Am Ende liefen sie in die Bucht von Vlora ein, und sobald die ersten Lichter zu sehen waren, fingen sie wie die Irren an zu schreien: »Italien, Italien, es lebe Italien!« Die Begeisterung übertrug sich auf die

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