Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
armen Chinesen oder Kurden, die beim Anblick der fernen Lichter gar nichts mehr begriffen und ebenfalls anfingen »Italien, Italien« zu schreien. Die Kerle suchten einen einsamen Strand ein paar Kilometer von Vlora entfernt aus, hielten einige Meter vor der Strandlinie, stellten den Motor ab und ließen die Unglückseligen einen nach dem anderen aussteigen.
Onkel Timo war oft mit seinem Dienstwagen unterwegs. Bevor er sich hinters Steuer setzte, kippte er ein paar Gläser Grappa hinunter. »Das hält mich wach«, sagte er, »sonst schlafe ich noch ein.« Dann unternahm er seine Kontrollfahrten durch die Küstendörfer. Wenn er Durst bekam, hielt er unterwegs in einer der Bars.
»Guten Tag«, begrüßte er die Anwesenden. »Wie sieht’s aus in der Gegend?« Und wenn sie ihn fragten, ob er irgendeinen Wunsch habe, zog er seine Dienstmarke und antwortete: »Geheimer Staatsauftrag, ich wollte nur sehen, ob alles seine Ordnung hat.« Oder: »Guten Tag, ich bin der Staat, alles in Ordnung?«
Obwohl seine Stimme sehr freundlich klang, wirkten diese Worte für alle wie eine Drohung. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, füllten sie dem Onkel zwei Taschen, eine mit Bierflaschen, die andere mit Lebensmitteln. Der arme Mann, er war der Staat, und er arbeitete für sie. Onkel Timo verstand nicht, warum sie sich so verhielten, er wollte doch nur dafür sorgen, dass sie ihre Ruhe hatten.
So kam er zwischen einer Kontrolluntersuchung und der nächsten jeden Abend betrunken nach Hause. Er war der Staat, nicht wahr?
Sechsundzwanzig
An meinem zwanzigsten Geburtstag gab ich abends ein großes Fest mit allen meinen Freunden aus der Uni. Wir zogen stockbetrunken durch die Straßen und kamen auf die großartige Idee, die Pyramide des Diktators hinaufzuklettern und schreiend hinunterzurutschen. Die Pyramide war als Grabmonument für Enver Hoxha nach dessen Tod errichtet worden, aber man weiß nicht, ob es sein letzter Wille war. Allerdings hatte der Diktator zeitlebens eine Schwäche für Bunker. Früher hätte es niemand gewagt, sich der Pyramide zu nähern, außer um den Diktator zu beweinen. Jetzt trauten sich dagegen Rüpel wie wir, bis auf die Spitze zu klettern, um von dort hinunterzurutschen.
Ein schöner Geburtstag, wirklich. Irgendjemand hatte die Polizei alarmiert, und wir landeten alle auf der Wache. Tina und mir hatte es, während wir über den Marmor schlitterten, die Hosen zerrissen. Wir versuchten, die Löcher mit den Händen zuzuhalten, aber wir mussten dabei derart lachen, dass wir kaum laufen konnten. Da wir nicht einmal aufhörten zu lachen, als die Polizisten mit ihren Fragen begannen, drohte der älteste von ihnen, unsere Eltern zu benachrichtigen. Stille. Das hätte uns gerade noch gefehlt, wo wir schon jeden Monat dieselbe Leier über die großen Opfer zu hören bekamen, die sie erbrachten, um uns Unterkunft, Verpflegung und Studiengebühren zu bezahlen. Still und brav blieben wir in den düsteren, schmuddeligen Fluren der Polizeiwache sitzen, bis man uns bei Morgengrauen endlich gehen ließ. An jenem Morgen regnete es.
Wir begegneten uns im Regen. Ein zarter, frischer Aprilregen, der nach feuchten Rosen duftete. Er bot mir an, mich mitzunehmen. Ich war todmüde und nahm an. Ein Kaffee in einer nahegelegenen Bar, wo er verzweifelt und unter Tränen erzählte. Ich war jung, ich spürte den Duft der vom Regen schweren Rosen und den Puls der Welt zwischen den Blütenblättern. Seine blonde Freundin, die in der französischen Botschaft als Köchin arbeitete, hatte ihn verlassen. Er war so verzweifelt, dass ich ihn nach dem Kaffee in ein Pub begleitete, um ihn nicht alleine zu lassen.
Er erzählte mir, dass sie sich im letzten Jahr auf der Oberschule ineinander verliebt hätten. Sie waren so verliebt, wie man es nur mit achtzehn Jahren sein kann, bis über beide Ohren. Nach der Oberschule hatten die Eltern des Mädchens einen Jungen aus guter Familie als Zukünftigen für sie ausgesucht. Er sprach nicht davon, wie sie darauf reagierte. Er sprach nur davon, wie sehr er selbst litt. Von den Dummheiten, die er begangen, von den Unmengen an Alkohol, die er in sich hineingeschüttet hatte. Bei solchen Geschichten fallen immer dieselben Worte. Wenn du eine von ihnen kennst, kennst du bereits alle.
Zehn Jahre später waren sie sich zufällig wiederbegegnet. Er saß zusammen mit seinem Freund Neri, der auf seine Verlobte wartete, im Park des ehemaligen Regierungsviertels. Eine Gegend, die seit Kurzem
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