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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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die Lache, in der sie ihn eines Morgens mit einem Genickschuss fanden.

Siebenundzwanzig
     
    Wenige Tage nach Abschluss meines Studiums hielt ich zwei Papiere in den Händen: das rote, feste Papier meines Diploms und ein anderes, dünnes, glattes Papier, das genauso glänzte wie die Zukunft, die ich mir erträumte, während ich den Zielort las. Es war ein einfaches Flugticket, ohne Rückflug. Zweiundzwanzig Jahre, und all meine Hoffnungen ruhten auf diesem Flug. Wer weiß, ob der Pilot jemals etwas Schwereres als mich transportiert hatte.
    Als ich aus dem Flugzeug stieg, war alles schneebedeckt. Das viele Weiß ließ mich an die Quittenblüten in Großmutter Sabas Garten denken.
    Ich war aus reinem Zufall hier gelandet. In den Neunzigerjahren war die Auswahl größer geworden. Die Nachbarländer waren für mich von Anfang an nicht in Frage gekommen. Ich wollte ein Land außerhalb des Balkans, ein Land frei von balkanischem Temperament. Auch Italien fiel mir nicht im Traum ein: Aus irgendeinem Grund waren meine Gefühle für dieses so nahe gelegene Land sehr widersprüchlich, ein von Liebe und Hass geprägtes Verhältnis.
    Die Wahl fiel auf die Schweiz, aber es hätte ebenso gut Frankreich, Neuseeland oder Australien sein können. Einer meiner Verwandten, der im Zuge des Sturms auf die Botschaften geflüchtet war, lebte hier. Ich könne ein Einreisevisum bekommen, hatte er mir gesagt. Freudig nahm ich das Angebot an: Die Alternative wäre das Schlauchboot gewesen.
    Nach ein paar Monaten in Zürich musste ich feststellen, dass diese Stadt, obwohl sie so aussah, gar keine Hauptstadt war. Enttäuscht stopfte ich meine Sachen in den Koffer und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Bern. Bern war die echte Hauptstadt, wie konnte man nur so dumm sein?
    Drei Jahre lang blieb ich dort. Ich gewöhnte mich an den Schnee, den Frost und die Tage ohne Sonne. Meine Haut wurde blass und durchscheinend.
    Schon bald hatte ich es satt. Mein Hunger nach glänzenden Hauptstädten, hell erleuchteten Straßen und nachts geöffneten Geschäften war gestillt, mehr als gestillt. Dabei hatte ich keine einzige Person von »meiner Liste« getroffen. Allerdings war der einzige Schweizer, den ich »kannte«, Friedrich Dürrenmatt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er noch lebte. Mir kam der Gedanke, dass er in Albanien bekannter war als in der Schweiz. Alle Schweizer, die ich nach ihm fragte, zuckten nur mit den Schultern. Vielleicht sprach ich aber auch seinen Namen falsch aus.
    Ich nahm die Weltkarte, schloss die Augen und setzte den Finger blind auf … Rom! Was tun? Die Albaner wurden in Italien von allen verabscheut. Aber ich war anders, gebildet, hübsch, und Großmutter Sabas Peppini würden schon nichts gegen mich haben. Wenn es in Rom nicht gut laufen sollte, dann zum Teufel mit Europa! Dann ab nach Amerika! Mir fiel der Trottel aus unserem Viertel in Vlora ein, der an heißen Sommertagen auf dem Mäuerchen saß und schrie:
    »Ich geh nach Washington Post, nach New York Times, ich hau ab, verdammte Scheiße, ich hau ab hier.«
    Er ist wirklich abgehauen, nach New York. Er hat sich damit zufriedengegeben, auch ohne Times, so wie sich alle zufriedengeben, die fortgehen.
    Auf diese Weise landete ich in Rom. Ich, die Weltenbummlerin, Tochter eines Lehrers und ehemaligen Bauern aus Kaltra, dessen Schicksal durch die Ankunft des Kommunismus eine Wende nahm. Wer weiß, was für ein Leben er ohne jene Zeit der totalen Abriegelung gelebt hätte. Ein sehr viel schlechteres Leben, wenn man Großmutter Saba Glauben schenkte. Wer weiß, wer weiß es schon. Es sind nur verschiedene Sichtweisen, Vermutungen.
    Unterdessen denke ich über eine weitere Flucht nach. Die Welt erscheint mir genauso begrenzt wie meine Erinnerungen. Die Landschaft meines Planeten beschränkt sich bloß auf die Hauptstädte. Aber mein Mann, der in Rom geboren ist, hat nicht dieses verzweifelte Bedürfnis, ständig nach neuen Hauptstädten zu suchen. Ganz zu schweigen von meinen Kindern. Manchmal sagen sie, sie würden gerne aus Rom flüchten, aber sie sagen es nur so, mit einer Leichtigkeit, die einen schwindlig macht.
    »Los, wir hauen ab, wir lassen alles sausen«, platzt mein Mann heraus. »In Rom kann man nicht mehr leben, bei dem Verkehr, dem ganzen Chaos …«
    »Lasst uns einen Bauernhof in Kenia kaufen«, schlägt meine Tochter vor.
    In Kenia? Zu was bin ich denn aus Albanien aufgebrochen, zu was habe ich mich auf die Suche nach dem Mittelpunkt der Welt begeben?
    Ich

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