Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
niemals schlossen, vierundzwanzig Stunden lang nonstop Unterhaltung, Musik, Alkohol. Albanien musste schleunigst all das nachholen, worauf die Jugend bis dahin verzichtet hatte.
In jenen Jahren sah ich ein mir unbekanntes Land, ich lebte mit einem Volk von Fremden. Mein häufigster Gedanke war: Der Diktator muss seine Pappenheimer gekannt haben.
Vierundzwanzig
Endlich kam der Zeitpunkt, ab dem Religion nicht mehr als Opium des Volkes galt. Wir entdeckten, dass das echte Opium etwas war, das sich wunderbar an Stelle von Mais und Weizen anbauen ließ.
Als die Kirchen und Moscheen in den Neunzigerjahren wiedereröffnet wurden, waren Großmutter Saba (in Vlora) und ich (in Tirana) uns vollkommen einig. Beide zeigten wir gleich unser Interesse. Ein bisschen Religion schadet letztlich niemandem, sagte Großmutter, es bringt Frohsinn.
Auf dem Hügel von Kuz Baba gab es eine Teqe, in die man nach dem Sturz des Regimes den Leichnam eines bekannten Derwisches gebracht hatte. Großmutter schaffte es nicht mehr bis hinauf, aber oft schickte sie Mama mit Geschenken und Bitten hin.
Sonntags ging sie nun immer zur Messe in die orthodoxe Kirche, die in der Nähe unserer Wohnung lag. Aufmerksam verfolgte sie die Predigt, dann zündete sie für all ihre Lieben Kerzen an. Sie ging aber auch in die Moschee, am Gebetstag, dem Xhuma. Sie zog sich die Schuhe aus – die sie jedoch in die Tasche steckte, denn angesichts der wirtschaftlichen Krise traute sie sich nicht, sie am Eingang der Moschee stehen zu lassen – und stieg hinauf zu den Frauen, die einen von den Männern getrennten Bereich hatten.
»Ein bisschen unbequem«, sagte sie, »jedes Mal wenn der Imam was sagt, musst du deinen Hintern hochbringen, aber im Grunde ist es eine gute Sache.«
»Aber du kannst doch nicht zu beiden gehen«, wandte meine Mutter ein. »Du musst dich entscheiden.«
»Ich bitte dich«, erwiderte Großmutter, »soll ich mich als alte Frau entscheiden, wo ich mich schon als junge nicht entscheiden konnte? Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, zu welcher Religion ich gehöre, und solange ich es nicht weiß, ziehe ich sie alle in Betracht. Welche auch immer die richtige ist, ins Paradies wird man mich schon lassen, denn mein Gesicht ist weder hier noch da ganz unbekannt …«
Das Einzige, was Großmutter Saba noch nie betreten hatte, war eine Synagoge. Nicht dass sie etwas gegen Juden gehabt hätte, es gab merkwürdigerweise einfach keine Synagoge in der Stadt. Ich sage merkwürdig, weil tatsächlich eine kleine jüdische Gemeinde existierte. »Judengasse« nannte sich die Straße, in der sie lebten. Bei den Albanern hieß sie » Çifut- Straße«.
»Du rechnest wie die Çifut «, hörte ich in meiner Kindheit sagen.
Oder:
»Zum Glück haben wir Enver Hoxha, sonst müssten wir ruhelos durch die Welt ziehen, wie die Çifut. «
Man wusste nicht recht, woher diese Redensarten eigentlich kamen, ich glaube nicht, dass wir irgendetwas mit Hitlers Plänen zu tun hatten. Aber in jenen Jahren galt es als Enver Hoxhas Verdienst, dass die Vernichtung bei uns fehlgeschlagen war.
Die albanischen Juden hatten den Holocaust tatsächlich überlebt: Sie kamen aus Griechenland, andere aus Jugoslawien und Bulgarien. Nach der Konfiszierung ihres Besitzes waren sie alle darauf eingestellt, an die Nazis ausgeliefert zu werden. Die meisten von ihnen hatten sich in Vlora niedergelassen, aber auch hierher kamen die Deutschen und verlangten sofort nach den Listen mit den Juden.
»Nein«, antworteten die Albaner, »hier gibt es keine Juden, und hier waren auch noch nie welche.« Als die Deutschen während der Besatzung alle Namen der Einwohner überprüften, fanden sie keinen einzigen jüdischen Namen. Alle Davids waren zu Dauts geworden, alle Saras zu Sarijes. Nach dem Krieg nahmen sie wieder ihre alten Namen an, obwohl sie nun in jeder Hinsicht zu Albanern wurden. Das Land wurde abgeriegelt, und sie blieben drin. Sie waren eingesperrt, aber sie lebten.
Als Heranwachsende war ich von einem Mädchen aus der Judengasse fasziniert. Sie hieß Sara, ich fand ihren Namen hinreißend wie alles andere an ihr. In meinem nächsten Leben wollte ich unbedingt Sara heißen, aber um nicht so lange warten zu müssen, nannte ich später meine Tochter so.
An dieser kleinen Gemeinde bewunderte ich vor allem die Ruhe, die rücksichtsvolle Art der Verständigung. Sie erhoben nie die Stimme, und ihre Frauen bekamen nie »die harte Hand zu spüren«.
Saras Vater war Schneider,
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